Hegels dialektische Philosophie
Dialektik -
die Kunst der Gesprächsführung
und des Lebens
Irgendwie denkt jeder über sich selbst und die Welt nach.
Und er redet darüber mit anderen Menschen. Das Denken und
Reden kann sich um das alltägliche Leben drehen. Es kann
zuerst einfache Zusammenhänge widerspiegeln und herstellen.
Manchmal dreht es sich scheinbar ewig im Kreis wie das wirkliche
Leben. Manchmal muß es abrupte Störungen verkraften.
Manchmal erzeugt es auch selber welche. Aus den einfachen Zusammenhängen
werden längere Assoziationen. Das Gedächtnis merkt sich
eh nur die wichtigsten Gedankenstränge und läßt
das weg, was unwesentlich wird. Wir lernen, daß es einige
Regeln gibt, mit denen wir von bekannten Sachverhalten auf unbekannte
schließen können und nennen das dann Logik.
Jeder einzelne Mensch geht diesen Lebens- und Erkenntnisweg; große
Menschengruppen entwickeln gemeinsame Lebensweisen und Denkmodelle
und -methoden.
Niemand ist jemals ganz am Ende aller Möglichkeiten seines
Lebensweges angekommen und immer gibt es etwas Neues kennenzulernen.
Auch das schon Bekannte verändert sich unter unserem Blick
und unseren vorwärtsschreitenden Füßen.
Beim Gehen setzen wir einen Fuß vor den anderen. Am Anfang
stehen wir mit beiden Beinen auf heimatlich gewordenem, bekannten
Boden. Der Schritt nach vorn beginnt mit der Loslösung. Ein
Fuß riskiert den Schritt ins Unbekannte. Die Füße
trennen sich. Erst der nächste Schritt läßt uns
wieder mit beiden Beinen fest im Leben stehen. Das früher
Unbekannte, Fremde wird unser neuer Standpunkt.
Dieses Bild berücksichtigt noch nicht einmal, daß auch
die Grundlage, auf der wir laufen, nichts Statisches, Unveränderliches
ist. Dauernd verändert sich dieser Untergrund.
Beides, das Wirken des Untergrundes, wie auch unser Handeln sind
ständig im Fluß. "Alles fließt" erkennt
der Grieche Heraklit Die der indischen Yogapraxis zugehörige
Samkhya-Denkweise betont das Zusammenspiel von Wirken(lassen)
und Handeln.
Diese Wechselwirkungen in der Realität wie auch im Denken
wurden in der Philosophiegeschichte schon lange implizit in den
Argumentationen verwendet. Besonders deutlich fielen immer immer
wieder die sich abwechselnden Polaritäten auf:
Auch die Vorstellung, daß aus einer ursprünglichen
Einheit etwas aus sich herausgeht, um (zeitlich oder logisch)
später wiederzukehren, ist alt (z.B. bei den Neuplatonikern).
Die Sachverhalte oder Aussagen an den Enden der Pole unterscheiden
sich grundsätzlich voneinander und wirken gegensätzlich
aufeinander ein.
Während Immanuel Kant die Ursache für dialektische Widersprüche
in der Vernunft sah, die eine Logik des Scheins aufbaue, verknüpfte
Johann Gottlieb Fichte bereits Denk- und
reale Prozesse. Er beschrieb metatheoretisch zum erstenmal ausführlich
die sich systematisch schrittweise abwechselnden Teilverfahren
wie Reflexion-Abstraktion und Analyse-Synthese. Die Wahrheit kommt
erst dann näher, wenn nach einem ersten Schritt (These) der
zweite Schritt (Anti-These) diesen negiert/relativiert, bis danach
die Wahrheit als Synthese erscheint. Diese Dreischritt-Dialektik
ist nur eine sehr, sehr verkürzte, oft irreführende
Widergabe des Prinzips der Dialektik. Das krampfhafte Festhalten
an der Dreischrittigkeit durch Schelling und Hegel führte
zu sehr schematischen Einordnungen natürlicher Zusammenhänge
in das vorgegebene Denkmuster.
Schelling contra Hegel?
In der Substanz haben Schelling wie Hegel viel mehr zur Dialektik
beigetragen.
Ausgehend vom Prinzip, daß die Freiheit das A und O der
Philosophie sein müsse, begründete Friedrich Wilhelm
Joseph Schelling eine dynamische Denkweise,
in der das vorausgesetzte grundlegende Prinzip nur ein Un-Bedingtes
(also nur durch Freiheit Wirkliches) sein konnte. Dieses Un-Bedingte,
Unendliche wurde später zum Identischen, zum Absoluten (und
zur Substanz, zu Gott). Es umfaßte - im Gegensatz zu Fichtes
absolutem Ich - auch die Natur. Die absolute Freiheit wurde von
Schelling als absolute Produktivität in das Natur- und Menschenbild
eingearbeitet. Unendliche Produktivität - damit sie sich
nicht wirkungslos ins Unendliche ergieße - muß aber
begrenzt werden von einer durch sich selbst erzeugten Entgegensetzung.
In dieser Differenz, diesem Wechsel entsteht etwas, das nur im
Wechsel bestehen kann: das Produkt. Schelling sieht in dem Bewegten
das Grundlegende und erklärt die stabilen Produkte aus dem
Wechselverhältnis von drei Urmomenten: den zwei Widerstreitenden
und einem Integrierenden.
Für Schelling gibt es die Identität nur in Form des
Wechselverhältnisses getrennter Momente - aber die getrennten
Momente bleiben immer Momente der Identität. Er betont selbst,
daß nicht die Trennung der Momente an sich Disharmonie wäre,
sondern eher die falsche Einheit derselben (wie bei einer musikalischen
Disharmonie). Das Weltbild Schellings beinhaltet einen großen
Kreislauf, bei dem sich das außer aller Zeit befindliche
Absolute (= Gott oder Substanz) affirmiert und dabei die endlichen
Dinge in-Existenz-bringt. Das ist notwendig, weil das Unendliche
im Absoluten nur in der zeitlichen Reihenfolge als endliche Produkte
sich realisieren kann. In der Realisierung kehren sie schließlich
zurück ins Absolute. Jedes Produkt enthält in sich etwas
Unendliches (die Seele) und die menschliche Einbildungskraft kann
einen Weg zu ihm erschließen.
Georg Wilhelm Hegel baut auf Schellings
Modell auf. Im Unterschied zu Schelling ist für ihn nicht
alles Ein Identisches mit einem einheitlichen Wesen für die
ganze Welt, sondern er betont, daß aus der Widersprüchlichkeit
etwas Neues mit völlig anderen Qualitäten und auch Wesensmerkmalen
entsteht. Auch für ihn gibt es etwas Absolutes, das als Ziel
am Ende aller Bewegungen steht, und das sich in der Bewegung aller
Dinge/Gedanken selbst bewegt/verwirklicht. Die Zwischenschritte
sind bei ihm allerdings anders gedacht. Auch die Methode der Selbst-Bewegung
(des Denkens, das für ihn auch die Bewegung der Dinge ist)
beschreibt er detaillierter als Schelling.
In der ursprünglichen Identität (These) wird zuerst
ein Unterschied gesetzt. Diese Trennung zwischen Einem und seinem
Anderen (Antithese) ist eine verstandesmäßige Reflexionsleistung.
Während der einfache Verstand an diesen Trennungen festzuhalten
pflegt (Isolierung, Festwerden der Gegensätze), muß
dann die höhere Vernunft die neue, höhere Einheit der
Gegensätze finden. Festgewordene Gegensätze in der Bewegung
aufzuheben ist die Aufgabe der Reflexion der Reflexion.
Für das sich Bewegende ist die Setzung des Anderen die erste
Negation, die dann aber nicht so stehen bleiben darf, sondern
wieder negiert werden muß: erst die Negation der Negation
erreicht eine neue Einheit. Oder noch anders gesprochen: In der
ersten Negation wird das sich Bewegende sozusagen von außen
angesehen und es wird (vom Verstand) festgestellt, daß ihn
ihm noch etwas Anderes ist. (Jedes Bestimmte ist eine Negation,
stellte schon Spinoza fest: Alles, was eine Bestimmung hat, ist
zumindest nicht eine andere Bestimmung, die es auch immer
gibt: Eine Wiese ist eine Wiese dadurch, daß sie nicht
der umgebende Wald oder Teich usw. ist. )
Die zweite (vernünftige) Negation behält zwar bei (bewahrt
es auf, hebt es auf), daß die Wiese nicht der Wald oder
Teich ist. Sie weiß aber mehr: Sie schaut die Verstandesreflexion
sozusagen von innen- aus dem Gegenstand selbst heraus - an: die
Wiese ist nicht der Wald, weil auf ihr Gras und Blumen
statt großer Bäume wachsen und so weiter. Das ist wieder
eine qualitative Aussage über die Wiese selbst. Die
zweite Negation ermöglicht also eine gleichzeitige Aussage
über Unterschiede und die Qualitäten der Identität.
Die Einheit von Unterschied und Identität erst ist der Witz
HEGELscher Dialektik.
Wenn die ursprüngliche Identität durch die Unterscheidung
hindurchgegangen ist, ist sie nicht mehr dieselbe wie vorher.
Es hat eine Veränderung stattgefunden: im Geist (wie es Hegel
erforschte), oder auch in der materiellen Realität, die sich
ebenfalls dialektisch bewegt (siehe "Daß nichts bleibt, wie es ist...").
Die Unterschiede zwischen Schelling und Hegel
sind nicht zu übersehen. Während bei Schelling die Triebkraft
der Bewegung in dem vorausgesetzten Absoluten (denn nur dies ist
die natura naturans, deren Produktivität heute so gern bei
Schelling gefunden wird und womit er Hegel meist vorgezogen wird)
liegt, bekommt bei Hegel jedes Bestimmte selbst die Kraft zur
Selbstbewegung. Daß diese Selbstbewegung auch bei Hegel
letztlich in ein höchstes Absolutes mündet und nichts
wirklich offen läßt, ist seiner Systematik geschuldet.
Bei Schelling jedoch tauchen auch wesentliche (!) Unterschiede
nicht auf, weil er die Identität letztlich überbetont
und in ihr nur unwesentliche Potenzunterschiede zulassen kann.
Über die Maßüberschreitung bei Qualitäts-
oder gar Wesensänderungen, die ja heute angesichts der Erkenntnisse
aus den Selbstorganisationskonzepten so wichtig sind, hat er noch
gar nichts gewußt.
Deshalb ist die Hegelsche Dialektik eine Weiterentwicklung der
Schellingschen. Auch diese Entwicklung ist dialektisch: Schellingsche
Denkansätze sind wesentlich bei Hegel enthalten, aber bei
ihrer Negation auch weitergeführt worden.
Ganzheitsbrei oder Integration des
Differenzierten?
Die Darstellung von Dialektik ist wahrlich nicht gerade leicht
verständlich. Ein moderner Autor, Ken Wilber, greift ihre
Inhalte auf und erläutert sie auf seine Weise: Die ursprüngliche
Identität, in der sich noch keine Unterschiede herausdifferenziert
haben, nennt er "Fusion". Eine Veränderung, ein
Über-sich-hinauswachsen ist dann die "Transcendence"
durch Differenzierung und Trennung des Differenzierten. Danach
wird das Differenzierte neu integriert, wobei alle vorherigen
Schritte einbezogen, umfaßt (inclusion) werden. Diese Unterscheidung
ist für ihn weltanschaulich äußerst wichtig:
Angesichts des Leidens unter Trennungen (zwischenmenschlich, zwischen
Menschen und Natur, in sich selbst) sucht der Mensch Heilung in
Ganzheiten. Wenn er jetzt zurückflüchtet in alte Fusionen,
ist ihm nicht geholfen. Er muß die Differenzierungen neu
integrieren. Jeder Schritt ist dabei unweigerlich mit Verlusten
verbunden, muß "bezahlt" werden mit der Aufgabe
früherer Integrationen, die für den nächsten Schritt
lediglich Fusionen sind. Typisch für Wilbers Diskussion ist
die sich darauf beziehende Unterscheidung von prä-personalen,
personalen und trans-personalen Zuständen des Menschseins
im Individuellen wie auch im Kollektiven. Der personale Zustand
betont das isolierte Ich. In der absoluten Einsamkeit jedoch wird
eine heimatliche Ganzheit gesucht. Das könnte die lockende
Ur-Einheit (im mütterlichen Schoß, oder in der Urgesellschaft)
sein. Vle Ökologen und New-Age-Esoteriker meinen oft diese
Fusionen, wenn sie Ganzheiten anstreben. Ken Wilber analysiert
Meditationspraktiken aus der ganzen Welt und stellt fest, daß
diese in ihren besten Formen keine Flucht in diese Fusionen darstellen,
sondern über das Personale in das Transpersonale als neue
Integration hinausweisen wollen. Um Menschen dafür zu überzeugen,
muß er sich mit anderen "leichten" Meditationsformen
auseinandersetzen. Verbunden ist die Auseinandersetzung mit weltanschaulichen
Fragen über Evolution. Während die Fusions-Meditierer
i.a. alle Evolutionsschritte von der Gartenbaugesellschaft oder
der Jäger- und Sammlerhorde hin zum modernen Menschen als
Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts und Verlust
menschlicher Werte ablehnen, sieht Wilber darin notwendige Entwicklungsschritte
in Richtung des Transpersonalen.
Ken Wilber sieht also die Rückkehr in eine Einheit als Vorwärtsschreiten,
nicht als geschlossenen Kreis. Zusammen ergibt das eher die Form
einer Spirale. Eine Rückkehr aus der Trennung in die undifferenzierte
Fusion bliebe im Flachen, im "Flatland". Das Transpersonale
liegt dagegen auf einer anderen Ebene.
Ebenso hatte auch Schelling nicht die Differenzierung und Trennung
an sich als Problem angesehen, sondern eher die falsche Einheit
(Disharmonie). Dies unterscheidet die Dialektik von der heute
modernen Anbetung der Ganzheitlichkeit.
Prinzipien der Dialektik
Die dialektische Weltbewegung läßt nichts unberührt.
Wenn sie etwas zerstört, nimmt sie es in anderer Form mit
auf ihrem Weg ("Aufheben" als "außer Kraft
setzen", aber auch als "aufbewahren"). Alle ausdifferenzierten
Momente integrieren sich immer wieder neu und es werden neue Momente
gebildet, die wiederum in einer neuen Synthese zusammenfließen.
Auch im Denken werden alle früheren Momente mit in die neuen
Denkmodelle übernommen. Daher kommt eine Art Selbstsicherheit,
die allerdings berücksichtigen muß, daß die Synthese
niemals eindeutig erfolgt, sondern nur eine Variante in einem
vorherigen Möglichkeitsfeld realisierte. Zu beachten ist
immer ein jeweils größerer Weltbereich, als der gerade
in Betracht gezogene. Niemals erwächst eine Antithese aus
dem reinen Denken (denn die These war nicht nur "falsches"
oder "irriges" Denken, sondern für sich die zutreffende
Darstellung eines bestimmten, deshalb begrenzten Bereiches!).
Erst aus neuen praktischen Zusammenhängen heraus reifen die
Gegensätze, die Widersprüche, bis hin zur Überschreitung
der Grenzen.
- Da die Dialektik (nach Hegel) ihre Dynamik erst aus der Negierung
von Bestimmtem gewinnt, kann sie kein allgemeines Schema sein,
sondern ist nur auf Konkretes bezogen sinnvoll.
- "Im Allgemeinen" herrscht oft die Macht des Realen
- Hoffnungen auf Neues bleiben ohnmächtig. Sie können
ihre Kraft erst aus der bestimmten Negation schöpfen, nicht
aus irgendeinem Allgemeinen.
- Durch die Reflexion der Reflexion soll dabei der Gedanke von
jeglicher Willkür befreit werden, die Bewegung der Sache
selbst soll in den Blickpunkt kommen (Marx: "... die eigentümliche
Logik des eigentümlichen Gegenstandes... fassen.")
- Auch dies unterstützt die Selbstsicherheit dialektischen
Denkens - wobei akzeptiert werden muß, daß die "Eigentümlichkeit"
eben auch eigentümliche Möglichkeitsfelder (objektive
Zufälle und Wahlalternativen und Entstehung von Neuem) offen
läßt!
Die grundlegenden philosophischen Fragen nach dem Verhältnis
von Einem und Vielem werden in der Dialektik zusammengeführt
mit den Fragen von Widersprüchlichkeit, Bewegung und Entwicklung.
Einheiten realisieren sich nur in Entwicklungsprozessen, weil
sie nur als Einheit widersprüchlicher Momente existieren
können und die Widersprüche als Triebkräfte der
Bewegung wirken. Nicht eine statische Identität, die alle
Unterschiede zudeckt ist die wahre Totalität, sondern gerade
die dynamische Identität von Unterschied und Identität.
Die Totalität ist nicht ein Ganzes durch absolute Harmonie
ohne Gegensätze - sondern gerade durch ihre Widersprüche.
Diese Gegensätze im richtigen Licht (der Eigentümlichkeit
der Sache entsprechend) zu sehen, ist Aufgabe des dialektischen,
vernünftigen Denkens, das über den lediglich isolierenden,
abstrahierenden Verstand hinausgeht. Deshalb ist Dialektik nicht
lediglich eine mehrwertige, mathematische Logik, sondern geht
über diese verstandesmäßige Reflexion hinaus.
Die dialektische Totalität kennzeichnet Bereiche der Welt
(auch im Denken), die untereinander und in sich verschiedene Zusammenhangsformen
zu realisieren (dialektischer (!) Determinismus), die deshalb
strukturiert ist durch die Beziehungen ihrer Momente, die ständig
und immer wieder neue qualitative und Wesensmerkmale erzeugt und
Entwicklungszyklen realisieren (Herbert Hörz).
Dialektik als Komplexitätstheorie
Wenn wir neuere einzel- und allgemeinwissenschaftliche Erkenntnisse
betrachten, finden wir sehr viel "Anschauungsmaterial"
zu dialektischen Zusammenhängen.
Das Verhältnis von Ganzem und Teilen wird gegenwärtig
diskutiert in dem sogenannten "holografischen Weltbild"
(Ken Wilber ), nach dem wie in einem Hologramm in der Welt immer
wieder die gleichen Struktur- und Entwicklungsprinzipien auftauchen.
Schauen wir uns die dann genannten näher an - so sind es
Kennzeichen der Dialektik auf allen Ebenen des Seins. Auch die
"zirkuläre Kausalität" mit der die Hakensche
Synergetik beschreibt, daß das Verhalten der Teile das Ganze
hervorbringt und das Ganze wiederum die Teile erzeugt, verdeutlicht
den unauflöslichen Zusammenhang von ausdifferenzierten Momenten
mit ihrer synthetisierenden Einheit. Die "Selbstreferentialität"
des Autopoiesis-Konzepts nach Varela und Maturana verweist ebenfalls
auf einer Integrationsstufe auf die Identität der jeweiligen
Einheit (kann aber darüber hinaus nicht übergreifende
Integrationsstufen erfassen und deshalb keine Entwicklung begreifen).
Die Nichtlinearität und der "Bifurkationspunkt"
des Prigogineschen Selbstorganisationskonzepts
manifestieren ebenfalls dialektische Prinzipien.
In den von den erwähnten Theorien abgebildeten hochkomplexen
Systemen sind Wechselwirkungen und Rückkopplungen so wesentlich,
daß sie nicht mehr vernachlässigt werden können
und die Dialektik wird unübersehbar. Daß jeder der
Neuentdecker dieser Zusammenhänge meint, er allein habe nun
die allgemeine weltanschauliche Weltformel gefunden, ist einerseits
berechtigtem Stolz auf die eigene Leistung, andererseits aber
auch dem Zwang zur Selbstherausstellung auf dem Wissenschaftsmarkt
geschuldet. Kurioserweise gibt es auch die Meinung, daß
ausgerechnet die komplexen Systeme, "die eine lineare Prozeßhaftigkeit
dialektischer Entwicklungen ausschließen" (Luhmann),
nicht für die Dialektik typisch seien. Vielleicht sieht Luhmann
in der Dialektik nur etwas Lineares - was sie aber gerade nicht
ist. Hinter dieser Ablehnung steckt Luhmanns Befürchtung,
die Differenzierungen könnten verlorengehen. Aber das können
sie nur, wenn wir im "Flatland" bleiben, was aber keine
Dialektik wäre.
Dialektik als Kritik
Dialektische Vernunftanwendung kann nicht bei der verstandesmäßigen
Konstatierung der einzelnen Sachverhalte stehenbleiben. Indem
sie als Reflexion der Reflexion die Bedingungen und Voraussetzungen
der Sachverhalte wie auch der Widerspiegelung dieser Realitäten
untersucht, schaut sie tiefer und weiter. Sie sucht, sieht und
setzt das Werden im Sein frei. Sie setzt als Wissenschaft das
frei, "was es an Wahrem in allen einander widersprechenden
Ideen gibt, zwischen denen der vulgäre Verstand hin- und
hergeht" (Lefèbvre). Sie relativiert nicht nur ("sowohl
als auch"), sondern macht konkrete Aussagen über die
jeweilige Bedingtheit von Sachverhalten und Denkinhalten. Sie
ist ebenso wie die Wissenschaften auf das qualitativ Wesentliche
bezogen, deshalb nicht das Allgemeinste, sondern das Konkreteste.
Alles Konkrete ist bestimmt und deshalb negierbar, entwickelbar.
Auf unserem Weg in einer immer komplexeren Welt kann sie in der
konkreten Anwendung konkrete Orientierungen geben und das Wissen
um ihre Prinzipien macht uns klar, daß ein Rückzug
im "Flatland" nicht möglich ist, sondern nur eine
bewußte (ökologische und humane) Gestaltung der Evolution
im Erreichen der nächsten Stufe der Integration des in der
menschlichen Geschichte Ausdifferenzierten.
Sekundärliteratur u.a.:
Adorno, T.W.: Drei Studien zu Hegel, suhrkamp 1969
Bachelard, G.: Die Philosophie des Nein, Frankfurt a. Main 1980
Bubner, R.: Dialektik und Wissenschaft, Frankfurt a. Main 1973
Bubner, R.: Zur Sache der Dialektik, Stuttgart 1980
Erpenbeck, J.: Das Ganze denken, Berlin 1989
Hartkopf, W.: Studien zu Schellings Dialektik, Frankfurt a. Main
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Heckmann, G.: Das sokratische Gespräch, Hannover 1980
Hörz, H. u. Wessel, K.-F.: Philosophie und Naturwissenschaften,
Berlin 1988
Konrad, W.: Dialektik der Elementarteilchenprozesse, DZfPh 9/67
Lefèbvre, H.: Der dialektische Materialismus, Frankfurt
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Luckner, A.: G.W.F. Hegel: Bewegung im System, der blaue reiter.
Journal für Philosophie, Nr. 2/1995
Luhmann, N.: Soziale Systeme, Frankfurt a. Main 1987
Lutz, R.: Die sanfte Wende
Séve, L.: Über die materialistische Dialektik, Frankfurt
a. Main 1976
Simon-Schäfer, R.: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie
Wilber, Ken: A Brief History of Everything
4.10.96