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Entropie und Wirtschaft

Theoriemangel ist tödlich für jede politische Bewegung. Also wird es Zeit, sich auf das Einmal-Eins der Theorie zu besinnen. Was umso schwerer wird, als es da keine Fibel mehr gibt und man eigentlich alles erst mal selbst neu hinterfragen und erarbeiten muß. Da kann es schon mal passieren, daß die Übersicht verloren geht.

Wichtige methodische Grundregeln fallen dann durchs Raster und das führt zu einem Durcheinander von Argument und Gegenrede und Beschimpfungen usw.

Nachdem ich mich den Streitereien in der ÖkoLinX zum Thema Entropie geradezu verweigert hatte, indem ich sie nach dem Lesen schnell weglegte, fallen mir jetzt mehr und mehr Zusammenhänge auf, die grundlegenden Charakter haben. Jetzt denke ich, daß die Entropiedebatte geradezu hervorragend geeignet ist, auf das Wesen der Beziehungen zwischen verschiedenen Seins-Ebenen hinzuweisen.

1. Nur was physikalisch möglich ist, ist wirtschaftlich machbar.

Die Hinweise, daß die Entropie in geschlossenen Systemen nur steigen kann, haben einen rationalen Kern.

Die Erde ist wegen der Zufuhr der Sonnenstrahlung und die Wärmeabfuhr in den Kosmos kein geschlossenes System. Trotzdem macht es Sinn, danach zu fragen, ob unsere Produktionsweise diese Sonnenenergie sinnvoll nutzt, oder strukturell daran hindert.

Denn eins steht fest: was den physikalischen Gesetzen widerspricht, kann auch durch Ökonomie oder Politik nicht erzwungen werden. Hier wird ein wichtiges Grundprinzip deutlich:

"Tieferliegende" Strukturniveaus der Materie limitieren die Möglichkeiten für die darauf aufbauenden Niveaus.

Aus dieser Tatsache heraus argumentieren die Warner, die eine Erschöpfung der Syntropie der Erde konstatieren.

Diese Tatsache braucht man nicht abstreiten, man müßte nur nachweisen, daß man sie tiefer versteht und daraus eine eigene Meinung ableiten.

2. Selbst die Physik bietet schon mehr als die "Entropie"!

Lothar Maier macht (in "Ein System siegt sich zu Tode") darauf aufmerksam, daß 1989 zwei Bücher erschienen, deren Titel "Das Grundgesetz vom Niedergang" und "Das Grundgesetz vom Aufstieg" waren. Alle bisherigen Entropiedebatten beschränkten sich systematisch (durch den Begriff Entropie) auf das erste "Grundgesetz".

Dabei ist die Welt viel vielseitiger.

Um hier nicht in mein Spezialgebiet auszuschwärmen, will ich nur kurz andeuten, daß die Erkenntnisse zur Selbstorganisation viele Ansatzpunkte bieten, genauer zu verstehen, wie Evolution funktioniert. Beschrieben wird hier die Eigenschaft der Materie, sich zu immer höheren Einheiten zu entwickeln, wobei sich auch die und Möglichkeitsfelder mitunter diskontinuierlich ändern. Es ist möglich, mittels dieser Kenntnisse allgemeine Aussagen zur Entwicklung, zur Rolle des Zufalls, zu Gesetzmäßigkeiten u.ä. zu machen. Über die philosophische Verallgemeinerung (die ich unbedingt für notwendig halte, um kurzschlüssige Ableitungen aus der Physik zu den Menschen u.ä. zu vermeiden) können dann Hinweise auf gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten gewonnen werden. Näheres kann bei Interesse jederzeit mit mir diskutiert werden, hier geht es um Weiteres:

3. Menschliche Gesellschaften sind mehr als physikalische Systeme

Das Grundprinzip, daß tieferliegende Ebenen durchaus Einfluß auf die betrachtete Ebene haben, heißt nicht, daß man sich auf sie beschränken dürfe. Im Gegenteil:

Die Gesetzmäßigkeiten und Triebkräfte des Geschehens rühren aus spezifischen Beziehungen innerhalb der betrachteten Ebene - der Gesellschaft - her.

Innerhalb der Gesellschaft gibt es eine weitere Hierarchisierung.

Jede spezifische Gesellschaftsformation unterliegt Bestimmungen allgemeinerer Gesetzmäßigkeiten (z.B. muß in jeder Gesellschaftsformation die eigene Gesellschaft materiell und ideell reproduziert werden; die Art und Weise ist dann spezifisch).

Auf dem Weg von der Physik zu einer Kapitalismuskritik sind also mindestens vier Stufen zu nehmen:

  1. Menschen unterliegen als biotische Wesen bereits spezifischenGesetzmäßigkeiten, die über das Anorganische hinausgehen.
  2. Obwohl Menschen biotische Objekte sind, sind sie mehr als biotische Objekte. Aber auch hier gilt die Limitierung;
  3. sind die den Menschen kennzeichnenden allgemeinen Arbeitsprozesse (als Stoffwechsel der Menschen mit der Natur) zu erfassen und
  4. muß die Spezifik der kapitalistischen Gesellschaftsformation untersucht werden.

Der Arbeitsprozeß selbst hat zwei wichtige Besonderheiten gegenü- ber nichtmenschlichen, natürlichen Wechselwirkungen:

1. Man muß in der kapitalistischen Produktionsweise unterscheiden zwischem dem Arbeitsprozeß und dem Verwertungsprozeß.

Die Grundlage dafür ist die Erkenntnis, daß die menschlichen Arbeitskräfte in der Lage sind, "mehr Wert"(!) zu erzeugen, als sie zu ihrer eigenen Reproduktion benötigen.

Das hat nicht nur Bedeutung zum Verständnis der unter kapitalistischen Verhältnissen stattfindenden Ausbeutung wegen der Aneignung der darauf beruhenden unbezahlten, fremden Arbeit.

Wir durchstoßen hier die rein stofflich-energetischen Bestimmungen von "Stoffwechsel".

2. Die Arbeit bewirkt nicht nur stoffliche Veränderungen in der Um-Welt. Arbeit als menschliche Wesenstätigkeit (MARX) hat nicht nur Wirkungen auf die Natur außer ihm, sondern verändert auch seine eigene Natur. Die dadurch bestimmte kulturelle Entwicklung kann mit physikalischen Begriffen wie der Entropie schon überhaupt nicht mehr beschrieben werden.

Betten wir dann die kapitalistische Art und Weise der gesellschaftlichen Reproduktion in diese allgemeinen Bestimmungen ein, so stellen wir eine qualitative Besonderheit fest:

Die kapitalistische Produktionsweise vollzieht sich nicht nach Maßgabe menschlicher Bedürfnisentwicklung, sondern ist strukturell an den Zwang zur Kapitalverwertung gebunden. Dieser Zwang

deformiert und verhindert kulturell mögliche Alternativen.

Es gäbe Alternativen, die eine Entwicklung ermöglichen, ohne die physikalischen und ökologischen Grenzen des Wirtschaftens zu strapazieren. Diese sind jedoch nicht innerhalb der auf Kapitalakkumulation beruhenden kapitalistischen Formation möglich.

Die Begründung dafür liegt in der Gesellschaft, nicht in der Biologie/Ökologie oder der Physik.

Insofern haben alle Kritiker recht, die davor warnen, die Entropie als den Hauptpunkt der Kapitalismuskritik zu sehen.

3. Die Wechselbeziehungen zwischen den Ebenen kann nie ausgeblendet werden

Es klingt verdammt theoretisierend- aber ohne die Mühe der Allseitigkeit sind neue Erkenntnisse nicht zu haben.

Tatsächlich unterliegt das menschliche Leben physikalischen wie biotischen Limitierungen- andererseits kennzeichnet es die Menschlichkeit, daß ihr Möglichkeiten zukommen, die andere Dingen oder Lebewesen nicht erreichen.

Diese beiden Bestimmungen:

a) physikalische/ökologische Limitierung

b) Möglichkeiten der freien Entwicklung

stehen einander nur scheinbar unversöhnlich entgegen. Umso unversöhnlicher steht dahinter oft der persönliche Streit ihrer Vertreter. Zu neuen Erkenntnissen kommen beide dann nicht.

Schauen wir uns zuerst einige Argumente der ersten Bestimmung an:

a) :Lothar Maier vertritt in seinem Buch "Ein System siegt sich zu Tode" die Grundthese, daß die Ausbeutung der Natur "weitgehend an Stelle" der Ausbeutung der Arbeiter getreten (S.96) sei.

Die Mehrwertquelle Arbeit sei aufgrund der Entwicklung zum Sozialstaat ausgetrocknet (S.97) und die Arbeitskraft würde zusätzlich immer mehr durch den Einsatz natürlicher Ressourcen ersetzt (S.24). Dabei verbraucht die Technik viel Energie (Entropieverstärker) (S.20).

Deshalb sei der Wirtschaftsprozeß Entropievermehrung in reinster Form. Aller Mehrwert sei nur eine Verrechnungsgröße für Entropievermehrung (S.38).

Da aber die Syntropie-Substanz zu Ende gehe, gehe nun der Kapitalismus nicht an seinen inneren Widerständen (die durch Sozialstaat befriedet seien) zugrunde, sondern an seiner hochgradigen Selbstverstärkung (S.28).

Auch E.Altvater sieht die Notwendigkeiten nicht mehr auf der Ebene des Kampfes gesellschaftlicher Kräfte um gesellschaftliche Gestaltungsfähigkeit, sondern technizistisch in einem Übergang von fossilen Energieträgern zu einem Solarzeitalter.

Einen anderen, noch "weitblickenderen" Vorschlag hat F. Gehlhar (in "Ethik- und Sozialwissenschaften"1(1990)4):

"Ich bin ...der Meinung, daß wir einen Großteil unserer globalen Probleme nur lösen können, indem wir sie "kosmisieren" (S.482).

"Aus der Thermodynamik und den Selbstorganisationstheorien wissen wir, daß Strukturierung immer von Energiedissipation begleitet ist. Fortschritt wird immer mit Energieentwertung eingekauft. Die Gesamtbilanz schlägt zugunsten der Entropie, zuungunsten der Exergie zu Buche. Mit dem Fortschritt nimmt somit der "energetische Müllberg" zu.

Einst wird daher der Tag kommen, da Energiestationen, die Exergie für Recycling verfügbar machen, zuviel Raum auf der Erdoberfläche in Anspruch nehmen. Spätenstens dann wird deutlich, daß auch irdischer Fortschritt an durch die Raumfahrt gesichterte Expansion gebunden ist (S.483).

Irgendwie verharrt Gehlhar, den ich eigentlich sehr schätze, an dieser Stelle in "kommunistisch"-utopischen Schwelgereien (siehe SF-Litaratur aus real-sozialistischen Staaten, aber auch da höchstens bis ins Ende der 70-er Jahre häufiger anzutreffen).

Meine Kritik dazu führte zu den in 1. bis 3. aufgeführten Erkenntnissen und ist aus ihnen heraus zu verstehen. Ich spare mir hier die Wiederholung.

Andere Kritiken verwenden andere Argumente.

Sachlich sehr gut argumentiert Ralf Blendowske in seinem Artikel "Lets get physical?" (zuerst erschienen in "Weißenseer Blätter" Nr. 1/1993, nachgedruckt in Konkret 4/93) u.a., daß gerade in global gefährlichen Prozessen Entropie den Problemen nicht zuordenbar ist. Die Gefährlichkeit der Freisetzung von Plutonium bspw. kann nicht mittels Entropiesteigerung quantifiziert werden.

Er verweist auch auf die Unterstellung, daß die Probleme nicht gesellschaftliche Ursachen hätten, sondern fälschlich "naturalisiert" werden.

"Das, was der Imperialismus verhinderte, nämlich eine notwendige wirtschaftliche Entwicklung aller Länder, wird mit der Globalisierung des Kapitalismus als naturalisierter Widerspruch formuliert: Globale Industrialisierung und Entwicklung seien mit den begrenzten Ressourcen und den Umweltproblemen unvereinbar" (Konkret S.38).

b)Eine andere Kritik, nämlich die von Ralf Störmer entgeht jedoch nicht der Falle, durch die Ablehnung der Bestimmung a) das andere Extrem b) zu verabsolutieren.

"...übersehen wird, daß die angeblichen "Naturgesetze" nicht die Gesetze der Natur. sondern die der Wissenschaft über die Natur sind... Subjektive Vorstellungen und Modelle werden zu objektiven Gegebenheiten, die unser Sein bestimmen.

Nicht die gesellschaftlichen Widersprüche sind schließlich die Ursache der Naturzerstörung, sondern ein Weltgesetz." (in ÖkoLinX 6 S.37)

Dabei übersieht er nun wieder, daß es tatsächlich objektive Gesetzmäßigkeiten gibt, die den subjektiv widergespiegelten Gesetzen entsprechen. Tatsächlich begrenzt ja z.B. das physikalisch Mögliche das gesellschaftlich Machbare (Rahmengesetzmäßigkeit).

Tuckfeld/Müller fanden dazu in ihrer Entgegnung (ÖkoLinX 7) ein schlagendes Argument bei Marx:

"Ein wackrer Mann bildete sich einmal ein, die Menschen ertränken nur im Wasser, weil sie vom Gedanken der Schwere besessen wären.. Schlügen sie sich diese Vorstellung aus dem Kopfe, etwa indem sie dieselbe für eine abergläubige, für eine religiöse Vorstellung erklärten, sie seien sie über alle Wassergefahr erhaben..."

(MEW 3,S.13)

Der richtige und wichtige Aspekt bei Störmer ist aber Hinweis auf Eigenständigkeit (im Rahmen des physikalisch Möglichen!) der sozialen Ebene.

Als allgemeine Schlußfolgerung ergibt sich, daß alle Texte, die strukturniveau-übergreifenden Anspruch haben, ihre Methodik erst rechtfertigen müssen gegen Vorwürfe, die Spezifik einer Seite nicht zu berücksichtigen, zu verschleiern, zu naturalisieren (kapitalismus-typische Gesetzmäßigkeiten in die "Natur" zu verlagern und als "naturnotwendig" zu apologieren) etc. Dies wird nicht nur in der Entropiedebatte wichtig, sondern dies widerspiegelt sich ebenso bei der Frage nach der Anwendung von Erkenntnissen aus der Systemtheorie (oder allgemeiner: Selbstorganisationskonzept) auf die Gesellschaft oder des philosophisch verallgemeinerten Wissens.

4. Hinter den Sachargumenten stecken politische Absichten

Nachdem ich mich nun so richtig zwischen alle Stühle gesetzt habe, weil ich jedem ein wenig Recht gebe, möchte ich - obwohl dieser Text mehr auf sachliche Erkenntnis setzt- die Hintergründe der Diskussion nicht außer acht lassen.

1. Als "kleinste" Gefahr der Anwendung des Entropiebegriffs in der Gesellschaftstheorie erscheint mir, daß der Kapitalismus verharmlost wird, wenn die menschliche Tätigkeit an sich als der Thermodynamik entgegengerichtet dargestellt wird.

2. Die Mühe der gesellschaftstheoretischen Arbeit scheint überflüssig. Jedoch können "naturgesetzliche" Modelle ...nicht annähernd Zusammenhänge zwischen bewußten Wesen beschreiben ..." U.Franke zu Tuckfeld/ Müller-Broschüre in ÖkoLinX 7 S.41)

3. Es besteht die Möglichkeit der Verwendung des "Limitierungsarguments" für ökofaschistische Ansätze.

Meines Erachtens jedoch kann die Entropie-Betrachtung eine Ergänzung (nicht mehr!) von gesellschaftspolitischen Betrachtungen sein:

4."Der Entropieansatz ersetzt nicht die Kritik der Politischen Ökonomie, er ergänzt sie und zwar gegen die Phalanx der Harmonisierer, die Ökologie und kapitalistische Ökonomie im Grundsätzlichen vereinen wollen." (Tuckfeld/Müller ÖkoLinX 7,S.40)

5. Er macht (u.a.) deutlich, was beim Denken an Fortschritt zu beachten ist außer dem sozialen Wohlsein der Menschen. Gegen die Fortschrittsgläubigkeit der "Real-Sozialisten" und anderer Linker kann die reale Limitierung schon wichtiges Argument sein.

6. Daß die Debatte auch Rechte nutzen, sollte uns nicht dazu bringen, ihnen dieses Feld kampflos zu überlassen! Wenn wir sachliche Argumente dagegen haben, sollten wir sie einbringen. (nicht, um die Rechten zu überzeugen- aber um denen zu helfen, die selber noch um Erkenntnis ringen).

Die Diskussion zwischen den Polen:

A1) Achtung, es gibt physikalische Grenzen

A2) Ihr müßt zurück zurück zur (physikalisch-biotischen) Natur!

B) Hilfe, das ist Ökofaschismus!!! deshalb weg mit A)wird nicht fruchtbar durch Gestreite.

5. Ohne Sachargumente erringen wir keine politischen Horizonte

Eher sollte man darauf kommen, daß es noch andere Denkweisen gibt:

C) Es ist tatsächlich notwendig, die Großindustrie zurückzudrehen (1. Negation). Aber: eine neuartige Gesellschaft soll nicht zurück zur mittelalterlichen Produktion, sondern ihre spezifische Art und Weise des Lebens und Arbeitens auf den gegebenen Möglichkeiten (Computer, flexible Automatisierung, intelligente Energie-umwandlung,..) heraus entwickeln (2. Negation - der Dezentralisierung). Das ist natürlich nur möglich bei einer (auf veränderten Eigentumsverhältnissen beruhenden) anderen Vergesellschaftung, zu deren Kennzeichnung ich nicht viel mehr als "dezentral-vernetzt" sagen kann (und will, denn dieses Prinzip erzwingt dezentrale Entscheidungen über das Arbeiten und Leben). Dann wäre es möglich, daß die Menschheit nicht mehr den "Grenzen des Wachstums" unterworfen ist, sondern ein auf neuartigen Mechanismen beruhendes "Wachstum der Grenzen" (Wilfried Maier) eröffnen kann.

Diesen Aussichten verschließt man sich, wenn man entweder die Negation unserer Produktionsweise (über die Notwendigkeit der veränderten Eigentumsverhältnisse hinaus!) nicht akzeptieren will oder andererseits in der ersten Negation verharrt.


18.5.93 anläßlich einer Diskussion in derÖkoLinX
- HTML am 2.8.1996

 

 

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