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Sozial-"Darwinismus"

Nach dem Ende des "realen Sozialismus" geht das Gerücht um, jetzt könne wirklich nur noch die Marktwirtschaft die Welt retten und die Menschheit voranbringen. Nur der Druck der Konkurrenz erzwinge Neues und erhält die Stabilität. Austausch geschieht nur zwischen konkurrierenden Akteuren und deshalb tragen konkurrierende Verhältnisse die Gesellschaft.

Seine "natürliche" Erklärung erhält dieses Prinzip anscheinend durch die Biologie. Für Darwins Erkenntnisweg war das Malthus-Argument wichtig. Nach Malthus gibt es immer mehr Nachkommen, als überleben und sich fortpflanzen können. Deshalb wird ausgewählt, wer sich fortpflanzt und in einer sich gegenseitig fressenden Welt überleben halt die am Besten Angepaßten, pflanzen sich und ihre Gene fort, während schlechter Angepaßte aussterben.

Das Selektionsargument wurde zur Erklärung jeglicher Evolution auch noch nach der Akzeptanz der Mendelschen Vererbungsregeln benötigt. Die Variation der Vererbung nach Mendel erkärt zwar Veränderungen der Häufigkeit von Genen in der Population, aber keine Gerichtetheit, die zur Evolution gehört.

Auch genverändernde Mechanismen wie Mutation und Genrekombination können keine Richtung und Tendenz bergünden.

"Es gibt die Möglichkeit für zufällige genetische Drift, nicht aber für gerichteten Wandel. Genau diese aber erfordert natürliche Selektion",

schließt daraus der Biologe M.Ridley. Selektion ist also demnach notwendig für gerichteten Wandel.

Angewandt auf die Gesellschaft landen wir genau bei dem oben beschriebenen Konkurrenz-Gesellschaftsmodell. Nur - ist es hier schlüssig?

Die Behauptung der hervorragenden Rolle von Selektion und damit Konkurrenz zieht ihre Beweiskraft aus der Nichtbegründbarkeit von gerichtetem Wandel durch andere Prozesse. Genau hier liegt der Fehler: Schon in der Biologie ist seit vielen Jahren bekannt, daß noch ganz andere Gesetzmäßigkeiten und Faktoren als die Mendelschen Regeln die Gene und die Vererbung bestimmen.

1. Gene können z.B. ein- oder ausgeschaltet werden, Gengruppierungen können gekoppelt und kombiniert werden - und zwar nicht nur rein zufällig, sondern wesentlich beeinflußt durch das innere biochemische Milieu in der Zelle und damit dem Organismus.

2. Nicht nur die Gene bestimmen die Evolution: die Organismenstrukturen selbst haben ein Potential an Veränderungen. Die Funktion der Organismenstrukturen ist nicht absolut festgelegt. Funktionen für Strukturen können sich verändern, Strukturen erfahren Funktionswechsel (z.B. entstanden aus den Kiefernknochen der Reptilien die Gehörknöchelchen der Säugetiere), Funktionsdifferenzierungen, Funktionssynthesen usw.

3. Auf der Ebene des Verhaltens liegt mindestens ein weitere Bereich offener , aber gleichzeitig richtender Möglichkeiten. Verschiedene Affenarten "wählten" unterschiedliche Lebensbereiche und beeinflußten damit ihr selektionierendes Umfeld und damit die Richtung ihrer Entwicklung selbst...

Nicht dies allein läßt die Übertragung der Biologie auf die Gesellschaft als unstatthaft deutlich werden. Es zeigt aber, daß sogar die Biologie nur unvollständig betrachtet wurde bei dieser speziellen Übertragung. Und ganz nebenbei wird auch auch Darwin selbst dabei höchst einseitig interpretiert, weshalb ich nicht dazu komme, den "Darwinismus" als Ganzes abzulehnen.

Die Gesellschaft selbst hat nun ganz andere Evolutionsmechanismen als die Biologie. Zwar ist der Mensch auch biologisch gebunden - er muß sich ernähren, wärmen, fortpflanzen... Aber das Menschsein ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß er die Art und Weise der Befriedigung seiner Bedürfnisse selbst bewußt organisiert und realisiert. Er lebt in einem Feld fast unermeßlicher Möglichkeiten. Er trifft - allein und gemeinschaftlich - die Wahl. Seine Wahl wiederum bestimmt die Möglichkeitsfelder der Zukunft selbst mit - aber nicht abschließend, sondern die Situation bleibt immer offen, entscheidbar, Entscheidungen erzwingend.

Die mögliche Offenheit von außen wird mit "von innen" mit seiner Bestimmtheit zur Kreativität, zur Aktivität erfüllt. Wo die konkreten Bedingungen den Individuen und Gruppen die Möglichkeiten der Lebens-Wahl einengen, macht sich diese Kreativität in deformierter Weise Raum. Gerade der Ausbruch deformierter, mißbrauchter, unterdrückter kreativer Bedürfnisse kennzeichnet das "Chaos"des Lebens am Ende von überlebten gesellschaftlichen Formen.

Es ist also die interne Kreativität, die von sich aus zu Realisierungen innerhalb der Gemeinschaften und Gesellschaften strebt, die ein Netzwerk des Lebens aufbaut.

Formen der Konkurrenz sind derzeit eine historische Form, in die diese Kreativität gepreßt ist. Sie müssen ja nicht immer und ewig diese Formen sein - im Gegenteil, in der Gegenwart drängt alles darüber hinaus. Unser Wollen als freie Menschen, die ökologischen Grenzen der bisherigen Wirtschafts- und Lebensweise und auch die Möglichkeiten für neue Produktions- Lebensmöglichkeiten führen zu neuen Ufern, ins Offene...

Der reale Staats-Sozialismus ist kein Gegenargument. Im Gegenteil: in ihm wurde gerade die interne Kreativität gefesselt, in festvorgegebene Bahnen gepreßt und in keiner Weise, nicht einmal der entfremdeten, deformierenden Konkurrenz freigelassen. Auch hier lief das Faß über. Nicht einmal, weil die materiellen Bedürfnisse des Lebens zu wenig erfüllt wurden - dies ließ sich relativ lange ertragen. Der Ausbruch kam aus Richtung der sich befreienden Kreativität. In den Fernsehsendungen wurde von den Menschen am meisten die "Gängelei" des gesamten Lebens kritisiert. Daß die Freilassung mit der Entlassung ins Netz der Konkurrenz endete - ist ein anderes Kapitel, was nur einen erneuten Anlauf zur endgültigen Befreiung als Lösung offenläßt.


Quelle u.a.: Ridley, M.: Evolution. Probleme - Themen - Fragen, Basel, 1992

 

 

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