Philosophie in der DDR


(Frank Richter, Freiberg)

Abschnitt 2:    Kann man als Philosoph heute noch Materialist sein?

Da bis in die Gegenwart hinein so furchtbare Dinge über den Materialismus bzw. über die Materialisten erzählt werden - auf Einzelheiten komme ich noch zu sprechen -, wollen wir unsere Überlegungen mit der Betrachtung einer alltäglichen Situation beginnen und danach einige Fragen stellen.

1. Einleitung: Können Materialisten etwas fühlen?

Wir alle kennen die Situation, in der einem Mädchen, einer Dame besonderen Ranges oder aber der eigenen Ehefrau ein Blumenstrauß überreicht wird. Was geht da alles so in uns vor! Wir freuen uns, daran gedacht zu haben, wir freuen uns auf die Reaktion der Beschenkten. Es ist dies ein außerordentlich komplexer Vorgang, der sich in der Übergabe der Blumen selber keineswegs erschöpft, sondern von Einstellungen, Gefühlen und vielleicht sogar auch rationellen Überlegungen begleitet wird: Wir verfolgen dabei bestimmte Absichten, wir wollen eine Botschaft übermitteln, und schließlich schafft solch ein Blumengruß möglicherweise eine neue Situation zwischen zwei Partnern bzw. zwischen solchen, die Partner werden wollen.
Ich komme hierauf zu sprechen, weil mich ein mir eigentlich sympathischer Theologe unlängst in einer Vorlesung mit der Feststellung überraschte, Materialisten könnten all das, was in unserem Beispiel einer menschlichen Begegnung geschieht, gar nicht beschreiben oder gar erklären, bzw. sie müßten ihrem theoretischen Konzept zufolge all dies auf einen Austausch bzw. eine Übergabe eines materiellen Gegenstandes reduzieren. Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen, entsann mich aber dann doch ähnlicher Versuche - etwa bei Papst Johannes Paul II. -, in denen der Materialismus in eine Reihe mit einer Art von Lebensführung gebracht wird, die im alltäglichen Sprachgebrauch tatsächlich oft als „Materialismus" bezeichnet wird. Friedrich Engels hatte sich schon zu seiner Zeit mit ähnlichen Vorwürfen auseinanderzusetzen, als ein zeitgenössischer Philosoph einen anderen Philosophen, nämlich Ludwig Feuerbach vor dem Vorwurf des Materialismus schützen wollte und ihn deshalb einen Idealisten nannte. Engels setzte dagegen: Fressen, Saufen, Augen- und Fleischeslust seien nicht für Materialisten typisch, welche durchaus auch Ideale besitzen könnten, sondern eher für den „braven Bürger". Freilich lehnt dieser solche Verhaltensweisen, in Katerstimmung, am nächsten Morgen als verwerflich ab. Insofern hätte ich in unserem Blumenstrauß-Beispiel also eher Bezüge auf eine irgendwie niedrig geartete Gesinnung (möglicherweise, um die Dame zu verführen) oder aber - natürlich ökonomisch determinierte - Klasseninteressen vermutet, also vielleicht die Verführung eines Dienstmädchens durch den Hausherrn, der Abschluß eines Geschäftes bzw. die Anbahnung einer "standesgemäßen" Ehe. Sollte es gelingen zu zeigen, daß Blumen schenken nicht auf solche vulgären Absichten zurückgeführt werden kann, hätte man dann tatsächlich Argumente gegen den Materialismus in der Hand. - Also, das hätte ich ja noch verstanden, aber so?

Immerhin, und das war dann meine Konsequenz, könnte man ja von einem solchen Beispiel ausgehend die ganze Problematik Materialismus/Idealismus noch einmal aufgreifen - auch wenn oder besser: gerade wenn diese Angelegenheit heute zuungunsten des Materialismus entschieden zu sein scheint und mit den verbreiteten Abgesängen auf den Marxismus-Leninismus auch das nunmehr endgültig letzte Glöckchen für den Materialismus geläutet wird. Insofern werden wir unseren Blumenstrauß zugunsten anderer Themen bald verlassen müssen - ja, und nun wollte ich beinahe wieder sagen: die wichtiger sind als jene freundliche Geste, und damit erneut Wasser auf die Mühlen derjenigen gegeben hätte, die den Materialisten vorwerfen, für bestimmte wichtige Seiten des Lebens würden sie sich überhaupt nicht interessieren, eben weil sie sie nicht erklären können.
Ob dieser Vorwurf berechtigt ist oder nicht, wird zu prüfen sein. Dabei glaube ich schon, daß er uns - und damit beziehe ich an dieser Stelle also explizit Partei für die der Materialisten - trifft und daß wir im Zusammenhang mit den Versuchen, die Geschichte des Zusammenhangs von Sozialismus und Materialismus aufzuarbeiten, auch an dessen weltanschaulichen Grundlagen nicht vorübergehen können. Es ist wahrscheinlich einer unserer größten Fehler gewesen, daß „wir" eigentlich immer geglaubt haben, jene Grundlagen müßten außerhalb jeder Diskussion bleiben. Auch war für viele die Vorstellung unhaltbar, es könnte innerhalb einer politischen Strömung wie der kommunistischen Arbeiterbewegung verschiedene, nur in bestimmten Grundsätzen einheitliche weltanschauliche, materialistische Positionen geben.
Die dabei noch gar nicht einmal so unberechtigte, einseitige Ausrichtung des dialektischen und historischen Materialismus auf ein Konzept radikaler, in möglichst kurzer Frist zu vollziehender Weltveränderung hat zu einer Vernachlässigung vieler sozialer und individueller menschlicher Verhaltensfelder in der weltanschaulich-theoretischen Reflexion geführt. Selbst wenn einzelne Soziologen oder Psychologen doch auf solchen Gebieten gearbeitet haben, so war die allgemeine Wahrnehmung doch auf die bevorzugten Forschungsgebiete konzentriert. Wenn dann schon die sogenannten Grenzsituationen des menschlichen Lebens wie Krankheit und Tod erst ziemlich spät Eingang in die philosophische Reflexion in der DDR gefunden haben, dann offensichtlich deshalb, weil sich die Künstler dieses Thema nicht ausreden ließen. Wie lange hätten wir dann erst noch auf den „Blumenstrauß" warten müssen?!

2. Der Sinn des Materialismus früher und heute

Eine wichtige Frage ist aber nun doch, ob wir die Erklärung der Welt tatsächlich verbessern, wenn wir in der dafür verfügbaren Palette von Instrumenten weiterhin einen Materialismus für erforderlich halten, oder ob es nicht mittlerweile andere und bessere Konzepte gibt. Es existieren durchaus immer noch Überlegungen, die auch eine Weiterentwicklung der Prinzipien des Materialismus für möglich halten. Man kann aber auch ganz anders an das Thema herangehen, es völlig verwerfen wollen und alles Gerede über Materialismus/Idealismus bzw. die Grundfrage der Philosophie für unphilosophisch halten. Diesen Weg kann und will ich schon deshalb nicht gehen, weil ich eigentlich Zeit meines „philosophischen" Lebens nicht wenigen Wissenschaftlern und Studenten zu erklären versucht habe, daß es einen Materialismus gibt, der nichts mit ideologisch begründeter Abschottung gegenüber anderen Weltanschauungen zu tun haben muß und der eigener Weiterentwicklung fähig und immer auch bedürftig ist. Auch wenn sicher die meisten von jenen Hörern heute kein Interesse an diesem Thema mehr haben, so bleiben vielleicht doch noch genügend übrig, die ihren weltanschaulichen Werdegang nicht so einfach abschütteln können und die wissen wollen, woher denn die doch unbestreitbare Attraktivität des philosophischen Materialismus stammte: War sie wirklich durch eine ununterbrochene politisch-ideologische Propaganda nur vorgetäuscht oder gab es doch auch überzeugende Argumente dafür, daß die bisher dominierenden Weltanschauungen, die Religionen inbegriffen, eigentlich mit ihrem Latein am Ende sind bzw. zumindest energisch umdenken müßten? Sicher spielten beide Faktorengruppen eine Rolle, und vielleicht ist es mir möglich, auch ihre Wechselwirkung sichtbar zu machen: So „dialektisch" es aussehen mag, wenn immer zwei gegensätzliche Parameter im Spiel sein sollen, und wenn das sowohl-als-auch wirklich besser ist als das entweder-oder - ein konsequentes dialektisches Denken muß stets beachten, daß die Gegensätze ineinander übergehen, sich wechselseitig bedingen, also auch identisch sein können. Dieser Grundsatz verhindert jede einfache Vergangenheitsbewältigung, die versucht, Positives und Negatives fein säuberlich voneinander zu trennen (also etwa in der DDR soziale Errungenschaften auf der einen, wirtschaftliche Ineffizienz auf der anderen Seite) oder aber die eigenen Mängel mit der Schlechtigkeit des Gegners zu entschuldigen.
Wie gesagt, vielleicht ist der Materialismus gar kein philosophisches Thema mehr, zumal das auch schon Philosophen lange vor jener Wende in Ost- und Mitteleuropa gedacht haben, über deren Quellen, Strukturen und Konsequenzen noch lange geredet werden wird. Materialismus und Idealismus hätten als produktive philosophische Kategorien längst ausgedient - spätestens seit Hegel, und was dann mit Marx, Engels und Lenin zur Materialismus-Idealismus-Alternative, zur sogenannten Grundfrage der Philosophie, und dann erst recht von deren Nachfolgern auf Tausenden Tonnen von Papier dargelegt worden sei, wäre zum einen fachlich längst überholt, zum anderen eben nur politisch-ideologischer Natur gewesen. Wir werden sehen, wie auch der Berliner Theologe Richard Schröder in die gleiche Kerbe hieb, diesmal nun aber schon nach bzw. während der Wende.
Auch dieser Schlag soll also heute diejenigen treffen, die schon mit dem Eingeständnis weltweiten Versagens sich sozialistisch nennender Politik, mit dem Scheitern eines „real-sozialistischen" Konzeptes und nicht zuletzt mit ganz persönlicher Schuld und Verantwortung konfrontiert worden sind und es sich dabei schon nicht leicht machen!? Aber wir werden wohl zugeben müssen, daß Begriffe wie „Sozialismus", „Kommunismus" oder auch „Linke" eng an ein philosophisches Verständnis gebunden waren, das wir Materialismus genannt haben. Geraten die ersteren ins Wanken - was geschieht dann mit dem Materialismus? Kann er von all dem unberührt bleiben? Vielleicht ist aber jener Zusammenhang gar nicht so eng, und war die Position, das Materielle sei dem Ideellen über- und vorgeordnet (was immer das bedeuten soll, wir kommen darauf zurück) wirklich unbedingt nötig, um eine Sozialismustheorie aufzubauen? Man könnte es sich dann vorstellen, das Materialismus-Konzept aufzugeben, um auf diese Weise eine Idee, eine Utopie, die sozialistische nämlich, nicht noch unnötig weiter zu kompromittieren. Dabei wäre hier wiederum vorauszusetzen, daß eine solche Utopie auch weiterhin möglich und notwendig ist, da bei allen Vorzügen einer freiheitlich-demokratischen Ordnung die moderne bürgerliche Gesellschaft eine Lösung der anstehenden globalen Probleme nicht zu garantieren vermag.

3. Typische Argumente gegen den Materialismus

An dieser Stelle ist es sicher von Vorteil, kurz und knapp die geläufigsten Argumente gegen den Materialismus vorzustellen bzw. ins Gedächtnis zu rufen:
· Der Materialismus orientiert den Menschen auf (vorrangige) Befriedigung materieller Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Sexualität, Besitz materieller Güter. So wichtig diese Dinge sein mögen, der Materialismus verfehlt damit das Wesen des Menschen, welches primär durch Geist (Bewußtsein, Seele, Gott) bestimmt wird. Insofern ist der Materialismus unmenschlich.
· Der Materialismus kann von seiner theoretischen Grundlage her dem Drang jedes Menschen, seine endliche irdische Existenz mit dem Unendlichen und Überirdischen zu verbinden und gerade in dieser Einheit den Sinn seines Lebens zu finden, nicht entsprechen und diesen nur kritisch und atheistisch reflektieren. Religion z. B. wird damit als nur historische Erscheinung prinzipiell fehlverstanden.
· Der historische, ökonomische Materialismus überbetont die Rolle materieller gesellschaftlicher Faktoren wie Produktion, Konsumtion, Eigentum, Macht, Geld im Geschichtsprozeß, orientiert einseitig auf die Rolle der Volksmassen und unterbewertet die Bedeutung von Persönlichkeiten, von Idealen, Weltanschauungen, Utopien usw.
· Der Materialismus verführt die Wissenschaften zum Mechanizismus bzw. zum Reduktionismus bei der Suche nach letzten, elementaren Bausteinen der Natur, nach letzten Strukturen oder Gesetzen. Materie im Sinne von Stofflichkeit könne jedoch keinen Erklärungsgrund für dasjenige abgeben, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und versagt dieses Prinzip schon in den Naturwissenschaften, wie wenig erst wird es der Komplexität des Menschen gerecht!
· Die Vorstellung (z. B. bei Friedrich Engels), Materialismus sei nichts anderes, als die Welt so zu nehmen wie sie sich gibt,  ist einfach naiv, entspreche nicht der Komplexität und Subjektbezogenheit menschlicher Erkenntnis und bringe philosophisches Denken auf das Niveau des Alltagsrealismus herunter. Insofern ist Materialismus das Ende der Philosophie im buchstäblichen Sinne.
· Der Versuch Lenins, Materie aus ihrer naturwissenschaftlichen Bezogenheit auf Stoff, Masse, Elementarität zu lösen und sie als außerhalb und unabhängig von den Empfindungen existierende Realität zu verstehen, nimmt dem Materiebegriff jenen Sinn, der ihm traditionsgemäß in der Philosophiegeschichte als „Substanz" bzw. als der dem Geist entgegengesetzten Substanz immer zugedacht war. Auch hiermit hebe sich der Materialismus also selber auf.
· Hegel habe gezeigt, daß eigentliche Philosophie immer idealistisch sein müsse, da eine denkende Betrachtung von An-sich-Seiendem eine Unmöglichkeit darstelle. Materialismus ist als Philosophie damit ausgeschlossen.-

Diese Argumente sind nicht einfach von der Hand zu weisen. Oft haben es sich philosophische Materialisten mit schroffer Zurückweisung solcher Argumente zu leicht gemacht, anstatt ihre eigene Konzeption in einer Diskussion hierüber wirklich weiterzuentwickeln. Vielfach waren Materialisten wirklich Reduktionisten (und nicht nur die sogenannten Vulgärmaterialisten um Büchner, Vogt und Moleschott im vergangenen Jahrhundert, sondern auch schon die französischen Materialisten um Holbach, erst recht viele Naturwissenschaftler wie Helmholtz und Haeckel - auch wenn sie dem Materialismusbegriff oftmals skeptisch gegenüberstanden), und offensichtlich hatte auch der marxistische Materialismus, speziell der von Engels, den Reduktionismus noch nicht überwunden, wenn er das Materielle letztendlich doch wieder als Inbegriff des Körperlichen betrachtete.
Demgegenüber aber wurde das Materialismus-Konzept rigoros benutzt, um andere Philosophien zu beurteilen - gemäß deren Nähe oder Ferne zum Materialismus; es wurde dabei „großzügig" zwischen dummem und klugem Idealismus unterschieden und es wurden verborgene materialistische Elemente in letzterem aufgespürt („Kryptomaterialismus"), z. B. bei Hegel, dessen Konzept einer Objektivität des Geschichtsprozesses ganz dicht an den historischen Materialismus herangekommen sei.
Da die Engelssche Vorstellung vom Materialismus („Die Welt so nehmen wie sie ist") kaum vom alltäglichen bzw. wissenschaftlichen Realismus („Es gibt eine subjektunabhängige, abbildbare Außenwelt") abgegrenzt werden kann, gelang es scheinbar sehr leicht, eine Fülle von Wissenschaftlern in das Lager des Materialismus zu ziehen. Sträubten sich diese, die Frage nach dem Primat der Materie konsequent oder überhaupt zu stellen, konnte die Bewertung als "materialistisch" über die Konstrukte „spontaner" bzw. „naturwissenschaftlicher" Materialismus dennoch sichergestellt werden. Es gab aber auch Autoren, die aus dem „Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab" die Richtigkeit des philosophischen Materialismus wie dessen Unantastbarkeit herleiteten, quasi nach dem Praxiskriterium. Damit war ein Punkt erreicht, wo philosophische Diskussion ihr Ende fand.
Leider sind in diesem Sog theoretischen Alleinvertretungsanspruches vielfach jene Momente übertönt worden, die die progressive Rolle und Leistung des Materialismus in der Geschichte der Menschheit ausgemacht haben: Die Orientierung auf die unbestreitbare Rolle materieller Bedürfnisse im menschlichen Leben (was natürlich für diejenigen besonders wichtig war, die damit Probleme hatten), die Forderung nach Selbstverwirklichung des Menschen hier auf Erden, die Rolle der Völker und Massen, die Bedeutung der Arbeit, ökonomischer Beziehungen und von objektiven Gesetzen für die Geschichtsprozeß, die Suche nach dem Atomaren und Elementaren in der Natur und in den Wissenschaften, die erkenntnistheoretische Bindung an den gesunden, realistischen Menschenverstand. Der Materialismus stand so eigentlich immer auf der Seite des Fortschritts, der Aufklärung, der Vernunft, und er wollte dies im Sinne der Marx-Thesen über Feuerbach nicht nur in passiv bleibender Interpretation, sondern als revolutionäre Aktion, als Umwälzung all jener reaktionären Verhältnisse, die von den verschiedensten religiös-idealistischen Weltanschauungen zumeist verteidigt wurden. Damit schien also auch der Idealismus - zumindest im Grundsätzlichen - als philosophischer Gegner fixiert und jeder künftige Kampf als Nullsummenspiel bestimmt: Der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen; „wenn dich der Gegner lobt, hast du einen Fehler gemacht".- Die Parallelisierung der weltanschaulichen und der politischen Kämpfe und ihre Identifizierung mit Klassenauseinandersetzungen über die Geschichte hinweg bis in die Gegenwart hinein förderte und forderte ein solches Verständnis von Antagonismus und Erkenntnis-fortschritt, in dem eigene Fehler und Schwächen allzu leicht übersehen werden konnten. Daß die andere Seite da wenig zurückstand und bezüglich Diskussionsbereitschaft und Toleranz auch nur wenig Beispielhaftes zeigt, hätte nicht als Ansporn zu eigenem solchem Tun dienen dürfen - wo wir uns doch in allen Dingen so überlegen wähnten.

Aber gerade dieser Wahn machte es praktisch unmöglich, zwei Aspekte zu erkennen bzw. zum strukturbestimmenden Moment jeder Verknüpfung von politischer Partei und philosophischer Wissenschaft zu machen:
-  Das Auftreten unorthodoxer marxistischer Theorieansätze insbesondere im Westen (etwa Gramsci, Lukács, Bloch oder die kritische Theorie der Frankfurter Schule) wäre eine Chance gewesen, den Marxismus tatsächlich als lebendige dialektische Denkform zu begreifen, deren Inhalt vielfältig sein und sehr flexibel auf neue Bedingungen hin transformiert werden konnte. Das hätte aber erfordert, wenigstens teilweise die dort entwickelten Kritiken am politischen, ökonomischen und ideologischen System des realen Sozialismus zu akzeptieren oder wenigstens darüber einen offenen Dialog zu führen. Dafür aber gab es keine Mechanismen, sondern jede Kritik galt automatisch als sozialismusfeindlich und unmarxistisch zugleich. Diese Situation hat dazu geführt, daß heute eine Diskussion darüber geführt werden muß, was wir nun eigentlich unter „Marxismus" verstehen wollen bzw. können, oder ob wir uns nicht doch auch gleich von diesem Ismus trennen sollten - was ja wiederum nicht bedeuten muß, daß man sich dabei vollständig von den Lehren von Marx und Engels verabschiedet. Aber auch die Theorie von Marx selber muß kritisch beleuchtet werden, wenn so etwas wie Marxismus Bestand haben will.
-  Sicher sind ernsthafte Zweifel darüber angebracht, ob und inwiefern die bürgerliche Gesellschaft ihrem eigenen Anspruch nach weltanschaulicher Pluralität gerecht werden kann. Orthodoxe marxistische Kritik („Es handelt sich letztendlich doch immer nur um bürgerliche Ideologie") scheint sich da mit der der Postmodernen, z B. bei Lyotard, zu treffen, welche nur einen „oberflächlichen Pluralismus bei unverändertem Grundkonsens" konstatieren kann. Aber - offener als die real-sozialistischen Gesellschaften ist diese bürgerliche Gesellschaft doch, und daß sich eine solche Gesellschaft vor einer solchen Ideologie schützen will und muß, die sie in eine „geschlossene Gesellschaft" verwandeln würde, gelänge es ihr sich durchzusetzen, das konnten und wollten wir nicht erkennen und akzeptieren. Es mangelte uns an einem Grundverständnis von Pluralität selbst innerhalb der Philosophie, und von der politischen Praxis waren in jener Hinsicht natürlich auch keine Impulse zu erwarten. Die heute in der zu beobachtenden Diskussionen um das Theorieverständnis in einer sozialistischen Partei zeigen, wie uns jenes Erbe noch anhängt.-

4. Aber ganz überholt ist der Materialismus vielleicht doch noch nicht

Dennoch, die moderne oder wie man will: postmoderne bzw. gar schon wieder post-postmoderne bürgerliche Gesellschaft hat die globalen Probleme (zu deren Bewältigung der Sozialismus angetreten war) nicht lösen können, und es ist auch nicht abzusehen, wie sie sie mit den vorhandenen Mechanismen würde lösen können. Ernstzunehmende Forderungen nach einem neuen Denken münden letztlich immer in solche nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung, und marktorientierte Prinzipien allein können diese nicht schaffen. Auch ihre Einbindung in einen sozialen und ökologischen Rahmen liefert heute bestenfalls lokale Lösungen; ansonsten geht die Schere zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern und Regionen immer weiter auf. Das ist alles bekannt und muß hier nicht weiter erläutert werden, zumal die „Motzkis" sowieso nicht zu meinen Lesern zählen werden. Für mich sind an dieser Stelle aber zwei Fragen ganz besonders interessant:
1. Benötigt die Menschheit einen neuen geistigen Entwurf zur Bewältigung dieser Existenzkrise und welche Rolle könnte dabei die marxistische Sozialismusidee, nun freilich befreit von allen realsozialistischen Deformationen und Reduktionismen, spielen? Benötigen wir eine neue Utopie oder sind es vielleicht gerade die Utopien, die großen Erzählungen, welche Menschen dazu verleiten, mit der Erde Schicksal zu spielen und so die Menschheit unzumutbaren Risiken auszusetzen - so wie es Hans Jonas betonte?
2. Kann ein Materialismus zur Beantwortung dieser ersten Frage beitragen - entweder als weltanschauliches „Fundament" einer solchen Utopie, oder aber als ein Beweisgrund dafür, daß wir einen völlig neuen Umgang mit Utopien anstreben und entwickeln müssen: Utopie als „kein Ort", eben als nicht zu Verwirklichendes zu begreifen und dennoch solchen Ideen eine praktische Bedeutung nicht abzusprechen?

J. Habermas hat solches selbst der sozialistischen Idee heute und künftig zugestanden. Aber von „Fundamenten" u. ä. wird wohl kaum noch die Rede sein können; hier kommen wissenschaftstheoretische Aspekte ins Spiel, die insbesondere dann auf Philosophie angewendet werden müssen, wenn sich diese als Wissenschaft versteht. „Marxistische" Philosophie hat sich - im Gegensatz zu den meisten anderen Philosophien - so verstanden, aber dieses Selbstverständnis auf der Grundlage des bis in die Gegenwart hinein in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften gültigen Wissenschaftsverständnisses dogmatisiert: Wissenschaft sei die höchste Form der Erkenntnis, sie liefert objektive Wahrheiten, die kumulationsfähig sind und die die Praxis in Wirtschaft und Politik in Technologien verwandeln. Philosophie begründe nicht nur die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern ist selbst solche und zwar fundamentalen Charakters. Man kann den Fundamenten nicht widerstreben wollen, auf denen man selber steht.
Die Kritik von Robert Havemann und anderen, damit werde materialistische Philosophie zu einem absurden Hort ewiger Wahrheiten, also zum Dogma, wurde natürlich abgelehnt: Zwar sollte sie nicht allein aus solchen Wahrheiten bestehen, aber eine ganze Menge unrevidierbarer philosophischer Grundpositionen sollte es schon geben, und das Geschäft des Philosophen sollte es nun sein, über den Weg ihrer Verknüpfung mit einzelwissenschaftlichen Theorien bzw. Hypothesen (also mit solchen aus Physik, Biologie usw.) weltanschaulich, methodologisch, heuristisch und ideologisch wirksam zu werden. Zu diesen Grundpositionen sollte natürlich das Primat der Materie gehören, und damit war der Kreis geschlossen.
Moderne wissenschaftstheoretische Konzepte räumen schon nicht einmal mehr der Wissenschaft eine solche Sonderstellung ein, geschweige denn der Philosophie. Wenn überhaupt, so ist Philosophie eine Form der Erkenntnis - mit allen Vorzügen und Nachteilen. Dabei scheint zusätzlich ein Wandel im Wissenschaftsverständnis eingetreten zu sein: Hat Wissenschaft bisher ihren monistischen Anspruch auf Wahrheit und Exaktheit mit Verlusten an Komplexität und Vielfalt bezahlt, so könnte nun ein auf Modellvielfalt, Komplexität, Selbstorganisation und Autopoiese gerichtetes wissenschaftliches Denken den vielfältigen Problemen und Risiken technologischen Denkens und Handelns besser gerecht werden. Aber absolut sichere Fundamente menschlicher Tätigkeit gibt es also auch von der Wissenschaft her nicht mehr, und damit scheint wieder mehr Platz geworden zu sein für religiöse Weltbegründungen - wobei freilich die Existenz einer ökumenischen Vielfalt solcher Weltanschauungen auch diesen Tatbestand sofort wieder relativiert.
Können sich materialistische Philosophen in eine solche Situation hineinversetzen und in ihr leben und arbeiten? Schon geraume Zeit vor der Wende habe ich versucht, über Publikationen und wissenschaftliche Kolloquien an der damaligen Sektion für Marxismus-Leninismus der Bergakademie Freiberg Möglichkeiten einer derartigen philosophischen Neubestimmung des philosophischen Materialismus zu orten. Während der „technische Materialismus" des französischen Philosophen Bachelard  noch ganz auf die experimentelle Situation der Physik zugeschnitten war, nutzten wir die immer stärker ins Blickfeld philosophischer Diskussion rückenden Merkmale technischen Wissens, um von hier aus die in den Ingenieurwissenschaften längst übliche Modellvielfalt als Grundprinzip nicht nur einzelwissenschaftlichen, sondern auch philosophischen Denkens verstehen zu lernen. Die dabei gemachten Erfahrungen waren zwiespältig. Nur relativ wenige Kollegen konnten sich mit dem Ansatz identifizieren. Es dominierte die Angst vor einer Aufweichung des Wissenschafts- und Materialismusverständnisses, und schon gar nicht gelang es, Kollegen aus den anderen Gebieten des Marxismus-Leninismus, also der Geschichte der Arbeiterbewegung, der politischen Ökonomie und des wissenschaftlichen Sozialismus bzw. Kommunismus, zu einer Zusammenarbeit zu bewegen - wobei eigentlich die Tragödie der ständigen Umbenennungen des wissenschaftlichen Sozialismus in Kommunismus und umgekehrt ein elementares Verständnis von Modellvielfalt hätte mit sich bringen können. Aber auch hier wurden „Provokationen" wie die aus Stefan Heims „König David Bericht" nicht verarbeitet, sondern immer wieder nur verdrängt. Aber man konnte immerhin an einer Einrichtung des marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums über solche Fragen diskutieren - was aber wohl auch nicht an jeder Hochschule möglich war. Da mußten verschiedene Bedingungen zusammentreffen; am besten war es, man hatte die Funktion eines Sektionsdirektors oder Prorektors inne und konnte so die ganze Sache auf seine eigene Kappe nehmen.

5. Versuchen wir einen neuen Anlauf?!

Meine Vorstellung und Hoffnung, durch langfristige und geduldige Arbeit in einer solchen Richtung Potenzen marxistischen Denkens wieder stärker fruchtbar machen zu können, sind durch die Ereignisse der Wende und die der Zeit danach zunächst einmal „widerlegt" worden. Gleichzeitig ergab sich die Möglichkeit, intensiver als zuvor die eigenen Überlegungen mit denen zu vergleichen, die in ähnlicher Richtung in der Bundesrepublik angestellt worden waren. Umfang, Breite und Tiefe solcher Überlegungen etwa bei H. J. Sandkühler oder bei H. Stachowiak zu Modellvielfalt hatten mich schon früher beeindruckt; in einer Reihe von Rezensionen hatte ich dabei die Gelegenheit, Stellung zu beziehen und da und dort eigene Überlegungen einzubringen. Natürlich unterschieden diese sich gegenüber den besprochenen Positionen bzw. Autoren (z. B. Popper, Stegmüller, Vollmer, Anderson, Krüger, Wetzel u. a.) immer in der Hinsicht, daß es mir um eine Formänderung des marxistischen Materialismusbildes ging, d. h. um das Lebendig-Halten von Marxismus und Materialismus.
Daß auch heute die Frage nach dem Marxismus interessant und wichtig ist, dürfte unbestritten sein. Auch nichtmarxistische Geistes- und Sozialwissenschaftler haben zum einen ökonomische und soziologische Gedanken von Marx längst im Sinne der Dialektik für sich „aufgehoben": Sie lernten von ihm, und sie polemisierten gegen ihn, wo sie es für nötig halten, und sie geben das in der Regel auch ganz „unverblümt"  zu. Inwiefern auch heute noch ein „Marxismus" denkbar ist, der sich dem Gesamtwerk von Marx verpflichtet weiß und dann auch die mit diesem Werk verbundenen politischen Zielsetzungen zu tragen bereit ist, dürfte eine noch längst nicht geklärte Frage sein. Es wird immer Streit darüber geben, wann eine bestimmte Abweichung, Weiterentwicklung, Problemverschiebung u.ä. von einem bestimmten Ismus noch als zu jenem gehörig betrachtet werden kann. Kommen dann noch theoretische Alleinvertretungsansprüche hinzu - und in dieser Hinsicht haben sich Linke und Marxisten immer unrühmlich ausgezeichnet, dann sind Ausgrenzungen und Verurteilungen an der Tagesordnung. Da wäre es also besser, man könnte auf solche - zumal personengebundene - Etikettierungen verzichten und sich auf sachliche Fragen konzentrieren.
Während also Marx generell jemand bleibt, der uns auch heute noch etwas zu sagen hat, ist die Sachlage hinsichtlich des Materialismus eine ganz andere. Entsprechend der anfangs geschilderten Polemik taucht dieser Begriff in der „Weltliteratur" praktisch nur ablehnend-kritisch auf oder aber er wird ganz durch „Realismus" ersetzt (etwa in der sogenannten evolutionären Erkenntnistheorie Vollmers als „hypothetischer Realismus" bzw. bei Putnam als „interner Realismus"). Ideengeschichtlich ist im Marxismus der Materialismusbegriff eher an Engels und Lenin gebunden denn an Marx. Die Kennzeichnung Friedrich Engels’ durch Willi Brandt als „liebenswerter Vereinfacher" und der Vorwurf einer unphilosophischen Ideologisierung des Materialismus durch Lenin, insbesondere in „Materialismus und Empiriokritizismus", treffen das Materialismusverständnis im Marxismus-Leninismus, nicht so sehr Marx selber.
Läßt sich „Materialismus" rechtfertigen bzw. so rekonstruieren, daß er modernen Ansprüchen philosophischen und wissenschaftlichen Denkens genügen kann? Das hängt u.a. von der Antwort auf folgende Fragen ab:
1. Kann philosophischer Materialismus seinen Alleinvertretungsanspruch so weit zurücknehmen, daß er sich als Mitglied und Partner einer Mannigfaltigkeit von Weltanschauungen begreift und ein Verhältnis von Geben und Nehmen akzeptieren erlernt - ohne sich dabei selbst aufgebend, aber dabei einen völlig neuen Sinn von Identität gewinnend? Vielleicht ist es das, was F. Engels - sprachlich aber ganz sicher zu schwach - als ständige Formänderung des Materialismus verstehen wollte.
2. Läßt sich ein Materialismusbegriff so formulieren, daß er - die Existenz einer Beziehung von Geist und Materie einmal vorausgesetzt - auch dem „Geist" bzw. dem „Bewußtsein" entsprechenden Respekt erweist, ohne sich dabei einfach auf „idealistische" Positionen zu begeben und sie für „dialektisch-materialistische" zu erklären?
3. Werden sich die Begriffe Materialismus und Idealismus überhaupt noch als brauchbar erweisen, um die interne philosophische Diskussion zu führen und dabei gleichzeitig die globalen Probleme der Menschheit zu benennen und dann vielleicht auch lösen zu helfen? Dabei hieße hier „brauchbar" vor allem, ein Gespräch zwischen „Andersdenkenden" zu ermöglichen.
4. Lohnt sich eine solche Mühe auch dann, wenn wir uns der postmodernen Kritik an der Moderne anschließen würden, absolute, letzte Wahrheiten seien überhaupt nicht mehr zu erwarten? Oder aber ist diese Kritik nur für die theoretische Philosophie (im Sinne von Kants reiner Vernunft) zutreffend und nicht generell für Weltanschauung, die dann vergleichbar mit Kants praktischer Vernunft doch für endgültige Antworten zu sorgen hat? In dem Fall müßte sich materialistisches Philosophieren aber der Problematik theoretische/praktische Philosophie erst einmal konsequent stellen.-
Zu all diesen Fragen habe ich in „Philosophie in der Krise" (Dietz-Verlag Berlin 1991) „meine" Antworten zu geben versucht. Diese zeichnen insgesamt für den Materialismus ein optimistisches Bild - ein vielleicht zu optimistisches. Da ist - trotz Beginn der Arbeit am Manuskript in der Vorwendezeit und nachfolgender teilweiser Überarbeitung aus Sicht der Wendezeit in ihren verschiedenen Phasen sicher noch zu viel Kontinuität im Spiel. Es wären deshalb moderne bzw. postmoderne theoretische Erörterungen mit einem Begriff von Materialismus zu konfrontieren, der neuartige Aspekte aushält und mitträgt. Das beginnt mit dem Strukturalismuskonzept, das für einen Materiebegriff, der auf Substanz orientiert, keinen Raum mehr zu bieten scheint. Zu fragen wäre also, ob das Verlassen eines aufs Stoffliche, Körperliche orientierten Materiebegriffs den Sinn eines solchen Begriffs überhaupt aufhebt bzw. warum jene Bedeutung dem Materiebegriff unbedingt zugesprochen werden soll. Die „Geschichte des Materialismus" von Friedrich Lange ist hier ebenso zu berücksichtigen wie der Versuch Lenins, diese Bindung aufzuheben.
Das ist fortzusetzen mit der erkenntnistheoretischen Frage, inwieweit eine solche, dann als schlechtweg subjektunabhängig zu bestimmende Materie Gegenstand der Erkenntnis sein kann? Die Kantsche Frage nach dem Ding an sich und seiner Erkennbarkeit kann auch heute noch als unbeantwortet aufgefaßt werden; auch wäre zu überlegen, ob sie überhaupt richtig gestellt ist. Sie ist ja in das klassische Wissenschaftsverständnis eingeordnet und kritisiert dieses unter Verweis auf die Existenz einer Objekt-Subjekt-Dialektik der Erkenntnis, welche selber wiederum problematisch ist. Konzepte wie das der Autopoiese radikalisieren weiter und stellen selbst eine solche Beziehung in Frage. Davon wird aber dann auch die Realismus-Problematik betroffen. Mit M. Wetzel wäre u.a. hier Hegel hinsichtlich verschiedener möglicher Stellungen des Bewußtseins zur Objektivität seiner Gegenstände zu befragen - was wiederum Konsequenzen für die Beziehungen von Wissenschaft, Wissenschaftstheorie und philosophischer Erkenntnistheorie haben sollte. Es ist also ein Unterschied, ob ein Physiker oder ein Philosoph über „Objekte" und „Subjekte" spricht und über welche Beziehung von Objekt und Subjekt sie dabei nachdenken - etwa im Alltag, in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Moral o. a. Gleichzeitig ist die Beziehung von Instrumentalismus und Realismus zu erörtern, und in diesen Zusammenhang wäre ein dialektischer Materiebegriff einzuordnen.
Daß Realismus und Materialismus nicht dasselbe sind, liegt zum einen daran, daß der Realismus nicht unbedingt verpflichtet ist, dem Begriff der Realität eine ontologische Bestimmung zu geben (etwa im Sinne von Substanz, Sein als Seiendem, Körperhaftigkeit, Materie o.ä.), zum anderen kann er auf die Frage nach dem Primat im ontologischen Sinn verzichten (Was war früher da? Wer hat was geschaffen?) Die zwei Aspekte der Grundfrage der Philosophie bei Engels waren mittlerweile von Autoren wie Alfred Kosing zu vier Aspekten ausgeweitet worden. Inwiefern tatsächlich davon gesprochen werden kann, daß die Materie in zeitlicher, genetischer, struktureller und erkenntnistheoretischer Hinsicht dem Bewußtsein gegenüber primär ist und ob bzw. wie in diesen Fragenkreis auch die Fragen und Antworten von Religionen bzw. des sogenannten objektiven Idealismus integriert werden können, ist zu prüfen. Gelingt letzteres nicht, so würde ein philosophischer Materialismus viel an weltanschaulicher Bedeutung verlieren: Das (oftmals religiöse) Streben des Individuums, im Überindividuellen und Übermenschlichen einen Halt zu finden, ist ja wohl mehr als nur eine falsche Widerspiegelung der Wirklichkeit bzw. Ausdruck einer „falschen Wirklichkeit", die den Menschen daran hindert, sich hier auf Erden selbst zu verwirklichen. Der religiöse Glaube ist im Leben von Menschen eine "reale Kraft", die zu einem sinnvolleren Leben (und oft auch zu einem sanfteren Sterben) verhelfen kann. Sollten sogar die Materialisten eines Tages den Glauben an eine Zeit verlieren, in der solche den Menschen deformierenden Kräfte nicht mehr existieren, so hätten sie sich also doch auf Religion als zum Wesen des Menschen gehörendes Faktum einzurichten. (Feuerbach und andere ließen dann grüßen!)
Es wäre also eine materialistische Theorie von Gott und Religion zu entwerfen oder wenigstens vorerst ein Ansatz dafür zu finden, der mehr sein sollte als eine sozial- bzw. individualpsychologische Entlarvung der Gottesvorstellung. Natürlich müßte man deswegen nicht religiös werden. All diese Fragen kann man m. E. heute generell noch nicht und schon gar nicht auf wenigen Seiten  beantworten. Im Folgenden wird deshalb erst einmal etwas zur Geschichte des Materialismus, speziell im Marxismus selber, gesagt werden.
Ich beende diese Gedanken mit einer Hypothese: Die Debatte um Materialismus und Idealismus bleibt zumindest für das Alltagsbewußtsein und die philosophische Debatte in den vormaligen wie heutigen realsozialistischen Ländern interessant, wenn sie denn schon in den "aufgeklärteren" Sphären dieser Welt vorbei sein soll. Dabei verläuft diese Debatte auf zwei Ebenen. In der ersten stehen sich Materialismus und Idealismus als zwei Prinzipien, als zwei Denkmuster, gegenüber, die sich in jeder einzelnen Philosophie wechselseitig beeinflussen und in ihrer Proportionierung die Eigenheit der jeweiligen Philosophie ausmachen. In der anderen Ebene differenzieren sich beide Prinzipien unter bestimmten historischen Bedingungen als eigenständige philosophische Richtungen, Strömungen und Schulen aus, wobei die jeweilige Realisierung des entsprechenden Prinzips unterschiedlich scharf ausfallen kann. Von Zeit zu Zeit treten dann immer wieder Vermittlungsvorschläge auf - wie die Philosophien Kants, Hegels oder von Marx, die sich dann zumeist auch als generelle Überwindung des Gegensatzes von Materialismus und Idealismus begreifen. Offensichtlich kann man jenen Gegensatz auf verschiedene Weise aufzuheben suchen, was von einer metatheoretischen Ebene aus gesehen als Modellvielfalt erscheint. Ob sich eines dieser Modelle zugleich als jene metatheoretische "Über-Sicht" für alle Modelle vorkommen und damit in die Rolle des Richters über alles und jeden lancieren darf oder ob sich das schon aus rein wissenschaftslogischen Gründen verbieten muß, wird ein ewiger Streitpunkt bleiben - weil noch kein Streit auf Erden allein mit logischen Argumenten beendet worden ist.
Insofern könnte auch in Zukunft die Grundfrage der Philosophie bzw. eine historisch aktuelle Konkretisierung dieser Frage eine mögliche Folie der Philosophie-Systematik wie -geschichtsschreibung sein, bleiben und werden.