Vom Umgang mit dem Gesetzesbegriff
in Wissenschaft und Politik der DDR

In den 40 Jahren DDR vollzog sich - entgegen anderslautenden Behauptungen - durchaus auch geistige Entwicklung. Ich war Mitte bis Ende der 80er Jahre selbst darauf gestoßen, daß die Frage der Existenz und des Wirkungsmechanismus von gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten ein Fokus für aktuelle politische Probleme sein müßte und beschäftigte mich damit (mit dem Höhepunkt eines Vortrags auf dem letzten DDR-Philosophiekongreß). Auch 10 Jahre nach dem Ende der DDR zeigt sich immer wieder, wie zentral diese Fragestellung für das Verständnis der DDR-Politikgeschichte ist. Gleichzeitig ist es nicht uninteressant, anhand dieses Themas einige Inhalte philosophischer Arbeit der DDR in Erinnerung zu rufen. Deshalb wende ich mich, nach Jahren der Arbeit an anderen Themen, mit bereicherten Erfahrungen und Wissen wieder diesem Thema zu. Eine Rückschau auf politische Interessen und die fachliche Arbeit an der Präzisierung der Kategorien am Beispiel des "Gesetzes" soll die Grundlage für die Bewertung anderer Ansätze und die Basis für neue Überlegungen sein.

Ich war selbst nicht "drin" im Wissenschaftsbetrieb der DDR. Deshalb kann ich mich nur auf die veröffentlichten Texte aus der DDR-Zeit beziehen und habe wenig Kenntnisse über politische Hintergründe verschiedener Debatten und kenne auch die persönlichen Rangeleien nicht, die ja oft wesentlicher für die Annahme oder Ablehnung verschiedener Ansichten sind und waren als inhaltliche Fragen. Ich bin deshalb für alle Hinweise und Informationen dankbar – vor allem inhaltlicher Natur.

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Vollstrecker gesellschaftlicher Gesetze?

"Im Selbstverständnis der SED galt die Partei als Vollstrecker der gesellschaftlichen Gesetze. Das verband sich mit der Auffassung, daß ihr eine größere Erkenntnis- und Entscheidungskompetenz zufällt als allen anderen. Daraus erwuchs Voluntarismus in den Entscheidungen der Parteiführungen, das bestimmte ihren Führungsstil, ihren Anspruch unfehlbar zu sein, das politische System, die Wirtschaft und die Kultur letztlich allein zu leiten und zu organisieren. So kam es zur Verpflechtung von Partei- und Staatsapparat und ihrem parallelen Aufbau."(Bericht von Egon Krenz u.a. ehemaligen Mitgliedern des Politbüros an den 1. Außerordentlichen Parteitag der SED, in: Protokollband "Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS" 1999)

Mir selbst wurde diese Verkettung des Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit und des Führungsanspruchs bewußt während Parteischulungen Mitte der 80er Jahre. Ich kannte vorher marxistisch-leninistische Philosophie und Erkenntnistheorie bereits auf einem höheren Niveau, die in ihren wissenschaftlichen Bereichen die propagandistischen Plattitüden überwunden hatte. Nachdem ich kapiert hatte, daß es nicht nur eine Eigenart der Parteischullehrer war, "die eigne Interpretation der Wirklichkeit anhand dieser Gesetzmäßigkeiten für wissenschaftlich und damit unangreifbar zu halten" (Hermann, zit. in Thiel, S. 50), fühlte ich mich herausgefordert, diese Meinung wissenschaftlich anzufechten. Der immer hochgehaltene Anspruch auf Wissenschaftlichkeit schien mir dafür eine gute Voraussetzung zu geben. Aus der Wissenschaftsphilosophie kannte ich bereits den "statistischen Gesetzesbegriff" nach Herbert Hörz mit seinen Möglichkeitsfeldern und wunderte mich immer, warum dieser im gesellschaftstheoretischen Bereich keine Anwendung fand. Dieser schien mir eine geeignete Form zu sein, in der die Kategorie des Gesetzes in der Gesellschaftswissenschaft unbedingt verwendet werden müßte. War denn noch niemand außer mir auf diese Idee gekommen? Ich stellte dann auf dem letzten DDR-Philosophenkongreß; mein Konzept für die weitere Arbeit daran vor... die Wirklichkeit überholte mich, Wochen und Monate später zerbröckelte die DDR und ihr gesellschaftliches System.

Die Bedeutung der Annahme einer durchgehenden Bedingt- und Bestimmtheit sowie Gesetzmäßigkeit für die Politik der SED

Man kann sich heute leicht hinstellen und den Anspruch einer wissenschaftlich orientierten Politik auf Grundlage der Kenntnis gesellschaftlicher Gesetze als Anmaßung abtun. Der Hintergrund dafür ist jedoch nicht nur subjektiver Machtwille von Parteibonzen, die sich das mit der Gesetzlichkeit einfallen ließen, um ihren Herrschaftsanspruch zu legitimieren - sondern wir müssen bedenken, daß alle früheren Gesellschaften entweder auf persönlicher Herrschaft oder der vergesellschaftenden Rolle des Kapitals, des Wertgesetzes, das als Wolfsgesetz hinter dem Rücken aller Beteiligten wirkt, beruhten. Die Sozialisten/Kommunisten dagegen gingen davon aus, daß die neue Gesellschaft nur BEWUSST durch die Menschen selbst gestaltet werden kann. Bewußtheit bedeutet, sich nicht lediglich spontan entstehenden Zusammenhängen aus beliebigen menschlichen Interaktionen zu unterwerfen, sondern die Zusammenhänge zu erkennen und bewußt zu gestalten. Das hatte einen freiheitlichen Anspruch, denn Bewußtsein und die Fähigkeit zum Erkennen und Gestalten gesellschaftlicher Gesetze wurden prinzipiell allen Menschen zugesprochen – allerdings erst in einer weiteren Zukunft. Bis dahin müsse eine Avantgarde die anderen Menschen erst erziehen ...

Gesetzesauffassung im Marxismus

Marx und Engels gingen von der Existenz objektiver Gesetze aus. Marx beschäftigte sich besonders zwischen 1870 und 1883 ausgiebig mit den Naturwissenschaften. Seine jetzt herausgegebenen Naturwissenschaftlichen Exzerpte und Notizen (MEGA, Vierte Abteilung) zeigen seine Suche nach einem neuen Konzept des sozialen Gesetzes. Dabei übertrug er nicht einfach Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften auf die Gesellschaftswissenschaft. Einerseits erkannte er Gemeinsamkeiten von Natur- und gesellschaftlichen Gesetzen – andererseits gibt es eine nicht reduzierbare Spezifik des Gesellschaftlichen durch das bewußte Zwecksetzen und Handeln der Menschen. Marx verwendete zur Unterscheidung das Beispiel des unterschiedlichen Handelns von Bienen und einem Baumeister. Das Gesellschaftliche konstituiert, wie wir jetzt wissen, einen Handlungsraum für die Individuen, der als Handlungsrahmen wirkt – aber sie gleichermaßen in die Möglichkeit versetzt, nicht unmittelbar und direkt zur Reproduktion der Gesellschaft beitragen zu müssen, sondern sich zu distanzieren. Die Möglichkeit, genau das zu tun, was die gesellschaftlichen Zusammenhänge (Gesetze) nahelegen, hat eine hohe Wahrscheinlichkeit. Der Mensch ist aber nicht hundertprozentig dadurch in seinem Verhalten festgelegt, sondern hat – im Unterschied zu tierischem Verhalten - immer die "Zweite Möglichkeit", nicht oder anders zu handeln. Diese besondere Möglichkeitkeitsbeziehung wurde allerdings erst in der marxistischen Subjektwissenschaft von Klaus Holzkamp herausgearbeitet (Holzkamp 1985). Im Gesellschaftlichen ist auch der historische Charakter von Gesetzen maßgeblich, der in Naturgesetzen bisher tendenziell ausgeblendet wird. Insgesamt blieb bei den Klassikern des Marxismus-Leninismus die Verwendung der Kategorien Gesetz, Notwendigkeit und Kausalität auch noch relativ undifferenziert, auch wenn von Engels z.B. explizit die Rolle des Zufalls als Erscheinungsform des Gesetzes anerkannt wurde.

Das Geschick der Kategorie Gesetz im "realen Sozialismus"

Daß eine Führung durch eine Avantgarde notwendig sei, wurde zu Zeiten der DDR – innerhalb zentralistisch organisierter Produktions- und Gesellschaftsstrukturen - kaum in Abrede gestellt, auch die verschiedenen Dissidenten wollten – soweit sie überhaupt eine inhaltliche Alternative entwickelten - meist nur eine bessere Führung. Bei den meisten ehrlichen GenossInnen verschmolz die Überheblichkeit des Führungsanspruchs mit einer massiven Selbsttäuschung. In der DDR gab es durchaus das Bemühen, die Menschen verstehen zu lassen, warum was notwendig schien. Damit alle Menschen diese Zusammenhänge verstehen können, schien es zuerst notwendig zu sein, "zu vermitteln", daß alles Handeln materiell bedingt und bestimmt (determiniert) ist, daß es objektive allgemeine, notwendige und wesentliche Zusammenhänge gibt. Die "Vermittlung" ist darin begründet, daß das Alltagsleben es aus sich heraus nicht ermöglicht, zu umfassenderen, wissenschaftlichen Ansichten über diese Bestimmt- und Bedingtheiten zu gelangen, sondern dazu eben eine Vermittlung durch jene, die die Erkenntnis schon erreicht haben, notwendig sei. Daraus wurde die Aufgabe abgeleitet:

"Für die Verbreitung des Verständnisses, daß der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft nur als geplanter gesellschaftlicher Prozeß in Übereinstimmung mit den Entwicklungsgesetzen der menschlichen Gesellschaft vor sich gehen kann, kam es insbesondere darauf an, die weltanschaulich-ideologisch bedeutsame Einsicht in die Existenz objektiver gesellschaftlicher Gesetze zu verbreiten" (Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR, 1979, S. 402).

Präzisierungen der Kategorie "Gesetz"

[...]

 

DDR-Gesellschaftstheorie – nicht auf der Höhe der philosophischen Gesetzeskategorie

"Statt allein das ins Zentrum aller Überlegungen zu stellen, dem einzig dieser Platz gehört –den Menschen! – untersuchten diese Forscher ausschließlich die Zwänge, denen der Mensch ausgesetzt war. Als Subjekt tritt der Mensch bei ihnen nur in erkenntnistheoretischer Hinsicht in Erscheinung, sonst ist er nur Objekt auf Bewegungslinien, die die sogenannten gesetzmäßigen Abläufe höchstens tangieren" (Szameit 1999).

Auch im Buch "Gesetzmäßigkeit und Gesellschaft" von P. Bollhagen (1967) wird die höchste Form gesellschaftlicher Gesetze darin gesehen, daß das Handeln der Menschen mit dem Wesen der gesellschaftlichen Gesetze zusammen fällt, mit ihr identisch wird (Bollhagen 1967, S. 175). Dabei ist aber nicht gemeint, daß die Gesetze das Handeln eindeutig vorschrieben. Im Gegenteil. Es werden der historische Charakter gesellschaftlicher Gesetze, also ihre Überschreit- und Gestaltbarkeit sowie die bewußte Tätigkeit als ihre immanente Komponente betont (ebd., S. 176). Trotzdem wird die bewußte Tätigkeit primär nur als Moment des "Wirkens der gesellschaftlichen Gesetze" (ebd., S. 179) betrachtet. Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts vom Menschen als "biopsychosozialer Einheit" kritisiert Herbert Hörz später jedoch ausdrücklich Ansichten, in denen "Menschen als Erfüllungsgehilfen objektiver Gesetze angesehen werden" (Hörz 1989, S. 55). "Gesellschaftliche Kräfte und individuelles Handeln bestimmen dabei die Realisierung vorhandener Möglichkeiten mit" (ebd., S. 46). Damit hatte neues Denken Einzug in die wissenschaftlichen Debatten gehalten - konnte aber nicht mehr zu einer vollständigen Konzeption gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten ausgearbeitet werden und blieb in der Politik so gut wie vollständig unbeachtet.

Ausgerechnet auf dem allerletzten DDR-Philosophenkongreß hörte ich die Hauptredner Worte wie "Möglichkeitsfeld" und "Variantenvielfalt" in den Mund nehmen. Ich wußte schon, daß diese Herren das statistische Gesetzeskonzept von Hörz auch vorher gekannt hatten. Sie konnten es nun nicht mehr ganz ignorieren, was ihnen dann aber auch nichts mehr half.

"Es gibt eine Fülle philosophischer Arbeiten zur Entwicklungsproblematik, die Gesetzmäßigkeit und Entwicklung nicht einfach mit einem ständigen kontinuierlichen Fortschreiten zu immer Besseren und Höheren identifizieren, den Fortschrittsbegriff mit Erscheinungen wie der Mannigfaltigkeit von Wegen und Zielen, der Möglichkeit von Stagnation und Rückschritt und der Beziehung von Diskontinuität und Kontinuität verbinden. Aber solche Untersuchungen blieben abstrakt, und der führende Repräsentant der DDR konnte sich damals einbilden, mit dem Satz vom Sozialismus, den in seinem Lauf weder Ochs noch Esel aufzuhalten vermögen, eine philosophisch begründete politische Wahrheit auszudrücken.

Daß für solche "Gesetzesinterpretationen" nicht nur Politiker empfänglich waren und daß Philosophen solche Verzerrungen bzw. Zurücknahmen eines dialektischen Gesetzesverständnisses weder verhindert noch öffentlich kritisiert haben, führte mich zu der Behauptung, daß auch marxistische Philosophie in einer Krise steckt" (Richter, F., 1990, S. 11).

Im Bereich der Determinismus-Forschung war schon lange der Versuch des Aufbrechens starrer Bestimmtheiten vorherrschend – auch wenn der Name "Determinismus" beibehalten, d.h. entsprechend offener interpretiert wurde (Determiniertheit als "Bedingt- und Bestimmtheit", nicht nur Vor-Bestimmtheit). Dies ermöglichte ein "Spiel mit den Möglichkeiten auf der Grundlage der Erkenntnis der Systemgesetze, den Test der Varianzbreite bei der Gestaltung menschlicher Verhaltensweisen" (Hörz im Nachwort zu Lem 1980, S. 621/622) – aber eben leider eher in versteckter Form.

Zwischen Natur- und gesellschaftlichen Gesetzen wurde insofern unterschieden, als klar war, daß gesellschaftliche Gesetze das Handeln der Menschen bedürfen.

Jens-Uwe Heuer unterschied zwischen Gesetzen, die auch in der Gesellschaft "wie Naturgesetze" ablaufen (Gesetze der kapitalistischen Ökonomie und des Wertgesetzes im Sozialismus) und den Gesetzmäßigkeiten der proletarischen Revolution bzw. des Aufbaus des Sozialismus, die nicht einfach gegeben und "ausnutzbar" seien, sondern erst im Prozeß selbst entstehen. Heuer brach damit bereits mit der Unterstellung, der Partei der Arbeiterklasse komme die Führungsrolle wegen ihrer Avantgardefunktion bei der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung zu, sondern betont die gesetzeerzeugende Rolle der politischen Organisation in der Gesellschaft. Ein Rezensent kritisierte genau diese eminent wichtige neue Unterscheidung zwischen naturgesetzlichen (sich nur spontan und über das notwendig falsche Bewußtsein im Kapitalismus durchsetzenden) Gesetzen im Kapitalismus und denen durch Bewußtsein geschaffenen (Zak). Die vom Rezensenten gestellte Frage, wie beide Gesetzesarten in übergeordneten Entwicklungsgesetzen zusammenhängen, ist allerdings durchaus berechtigt und bis heute noch nicht beantwortet.

Weitere Standpunkte zu gesellschaftlichen Gesetzen waren:

  • Gesellschaftliche Entwicklung unterliegt Gesetzen, für die ebenso wie für Naturgesetze gilt:

"Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebnen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen" (Engels, 1894, S. 106). Das führte zu einer strikten Ausrichtung der Politik an Gesetzen der Gesellschaft: "Eins sehr wichtiges Merkmal unseres Programms besteht darin, daß die entscheidenden Aufgaben... aus den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung abgeleitet werden..."(Ulbricht 1965, S. 32).

  • Gesellschaftliche Gesetze sind objektiv, bedürfen aber menschlichen Handelns.

"Die Beherrschung objektiver Gesetze des gesellschaftlichen Lebens ist keinesfalls eine leichte Aufgabe. Sie ist nicht einfach mit der Anwendung von Naturgesetzen vergleichbar. In der Gesellschaft handeln Menschen, die sich in ihrer Tätigkeit von unterschiedlichen Klasseninteressen und von sehr verschiedenen Gedanken, Vorstellungen und Gewohnheiten leiten lassen" (Opitz 1989).

Die Objektivität bedeutet vor allem das objektive Setzen einer neuartigen Subjekt-Objekt-Beziehung. Der Zustand sollte aufgehoben werden, in dem die Subjekte von den Resultaten ihrer eigenen Tätigkeit, den Objekten, beherrscht werden und nur unbewußt, gesellschaftsblind deren Entwicklungsgesetzen (Kapitalakkumulation) gehorchen. Dadurch sollte auch die entfremdete Gestalt des Verhältnisses der Menschen zu den Gesetzen ihres eigenen gesellschaftlichen Handelns überwunden sein (Koch 1966).

  • Die historische Notwendigkeit setzt sich im Handeln von Menschen durch, vor dem Sozialismus in unbewußtem Handeln (bzw. über das Zwangsgesetz des Kapitals vermittelt), im Sozialismus und Kommunismus schließlich bewußt (Hörz 1976, S. 374ff.).

Bewußtheit bezieht sich im Wesentlichen auf die Kenntnis der Entwicklungsgesetze und auf die Fähigkeit, ihre Bedingungen bewußt zu beeinflussen. Unter sozialistischen Bedingungen gilt: "Die Gesetze ihres eigenen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht." (Engels 1894, S. 264)

Der gesellschaftliche Prozeß wird im Sozialismus "auf der Grundlage der Erforschung und Erkenntnis der Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung prognostiziert" (Lauterbach, Söder 1965, S. 73) und dadurch ist eine "Planung völlig anderer Qualität als die staatsmonopolistische Regulierung der Wirtschaft" möglich.

  • Wenn objektive Gesetze nicht im bewußten Handeln durchgesetzt werden, stagniert die gesellschaftliche Entwicklung. D.h. auch: Bewußtheit und Organisiertheit sind nicht nur modifizierende Faktoren für die Wirkungsweise gesellschaftlicher Gesetze im Sozialismus, sondern selbst ein notwendiges, allgemeines und wesentliches Verhältnis der Gesellschaft zu den materiellen Bedingungen und Zusammenhängen der Produktion etc. (Koch 1966, S. 1052).
  • Gesellschaftliche Gesetze begründen keine Handlungsalternativen, sondern:

"Auch wenn die Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist... kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen oder mildern" (Marx 1867/1988, S. 15f.).

Erst 1988 kam aus der Gorbatschow-Sowjetunion die Botschaft: "Der Fortschritt erweist sich als in vielen Varianten möglich. Die Ergebnisse, zu denen friedliche Wege zur Veränderung und der Wechselwirkung unterschiedlicher Formationen führen können, sind nicht einwertig vorherbestimmt" (Thesen 1988).

  • Gesellschaftliche Gesetze setzen sich über individuelles Handeln durch, was sich in Wahrscheinlichkeitsverteilungen ausdrückt (Hörz 1976).

"Die historische Notwendigkeit setzt sich also in genügend langen Zeiten im Verhalten der Elemente durch, ohne dieses Verhalten eindeutig zu bestimmen" (ebd., S. 384).

Dies war die Aussage eines Wissenschaftlers. Die Politik wollte sich so lange Zeit nicht nehmen, sondern forderte strikt: Es ist "nunmehr möglich und objektiv notwendig, daß sich die Fähigkeit der Arbeiterklasse zur bewußten Ausnutzung und Beherrschung der gesellschaftlichen Gesetze im Massenumfange auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausdehnt und die Spontaneität weiter zurückgedrängt wird" (Koch 1966, S. 1049).

  • Daß das von den Gesetzen erforderte Handeln realisiert wird, erfordert:
  1. Kenntnis der Gesetze - bei allen Bürgern ("Diese Erkenntnis muß im Bewußtsein der Bürger als Anleitung praktischen Handelns fest verankert sein" (Opitz 1989)), wobei diese weiterhin unter der Führung der marxistisch-leninistischen Partei stehen.
  2. Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse der Menschen – was selbst als objektives Gesetz angesehen wurde.
  3. Beteiligung der Menschen "Besonders im Vorfeld von Entscheidungsfindungen ist die Diskussion verschiedener Möglichkeiten und Handlungsvarianten unerläßlich" (Opitz 1989). Dieser Punkt wurde erst 1989 offiziell betont. Menschen sollten nun nicht mehr nur an dem Finden geeigneter Wege zur Realisierung "von oben" vorgegebener Ziele beteiligt werden, sondern auch bei der Entscheidungsfindung. In der Sowjetunion war das 1988 beim XIX. Parteitag der KPdSU auch gefordert worden.
  • Die Vision des Umgangs mit Gesetzen bestand in Folgendem: "Die im sozialistischen Staat verwirklichte freie Gemeinschaft der Werktätigen, die die Assoziation alle produktiven materiellen und geistigen Kräfte der Gesellschaft ist, beugt sich nicht den Erfordernissen äußerer, ihr gegenüber verselbständigter und zu einer fremden Macht gewordener Gesetze, wenn sie die ökonomischen Zusammenhänge und Bedingungen einer optimalen Entwicklung der Produktivkräfte analysiert und bewußt verwirklicht, sondern sie arbeitet damit unmittelbar für sich selbst, ihre eigene allseitige Vervollkommnung als Gemeinschaft und jedes einzelnen Werktätigen. Sie erkennt das objektiv Notwendige und setzt es bewußt als Notwendigkeit ihrer eigenen freien Entwicklung und verwirklicht und reproduziert sie als solche" (Koch 1966, S. 1061).

Schön wärs gewesen...

Im Jahre 1989 wurde es schließlich unübersehbar, daß die gesellschaftlichen Gesetze des Sozialismus gerade auf der aktiven Rolle des subjektiven Faktors beruhen. Es war sicher kein Zufall, daß gerade aus dem Bereich, in dem der Mangel an Engagement der Menschen sich am deutlichsten ausdrückte - der wissenschaftlich-technischen Entwicklung - wenigstens auf den Handlungsspielraum innerhalb der Gesetzlichkeit hingewiesen wurde:

"Die Existenz bzw. Wirkung von gesellschaftlichen Gesetzen reduziert den Handlungsspielraum also keineswegs auf nur eine einzige Möglichkeit. Kenntnis objektiver Gesetze ist vielmehr Erkenntnis realer Möglichkeitsfelder, die bei Identifikation der eigenen Absichten mit den möglichen Resultaten einer Handlung das Handeln so orientieren, daß es mit großer Wahrscheinlichkeit zu eben diesem Resultat führt. Da nicht selten die erforderlichen Bedingungen erst geschaffen werden müssen, eröffnet sich ein weiteres Feld von Handlungsmöglichkeiten" (Wendt 1989, S. 21).

Anfang 1989 fand noch eine Tagung des Wissenschaftlichen Rates der Parteihochschule statt, auf der das Thema "Gesetzmäßigkeiten und bewußtes Handeln" zur Diskussion stand. Hier hieß es wieder:

"Nicht Wunschvorstellungen bestimmen den Gang der Geschichte, sondern das auf tiefe Einsichten in den Charakter unserer Epoche und die gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze beruhende Handeln der werktätigen Massen" (Tiedge 1989).

Ja, das Handeln der Massen hat die Geschichte wirklich bestimmt, allerdings weniger entsprechend irgendwelcher Einsichten über die Epoche und Entwicklungsgesetze. Die auf der Tagung ausgesprochene Warnung, daß nicht an den Bedürfnissen der Menschen vorbeigegangen werden dürfe, kam zu spät.

Zusammenfassend komme ich auf eine zu meinen Überlegungen parallel laufende Beschreibung zurück:
"Philosophisch oder - wohl einfacher - bereits systemtheoretisch gesehen, dürfte ein wichtiger Grund [für die nicht ausreichende Flexibilität] darin zu suchen sein, daß im Sozialismus von dessen ursprünglicher Natur her nach solchen systembeherrschenden Strukturen gesucht wird, die umfassend theoretisch begründet und unter Ausschaltung störender Konkurrenzmechanismen zentral geplant, geleitet und letztlich bei grundsätzlichem Konsensus von den produktiven Bereichen geschaffen, reproduziert und weiterentwickelt werden. Dem entspricht ein bestimmtes Gesetzes- und Wahrheitskonzept, das jedoch bestenfalls für die Phase der (extensiven) Industrialisierung der sozialistischen Länger und heute wahrscheinlich nur noch zum Erreichen bestimmter Schwerpunktzielstellungen (z.B. in der Mikroelektronik) geeignet ist: Es wird die durchgängige gesetzmäßige Bestimmung aller gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse angenommen, wobei eher das Modell des Laplaceschen Dämons gegenüber einer statistischen Gesetzeskonzeption bevorzugt wird" (Richter, F., 1990, S. 16).

Fragen zum marxistischen Gesetzesbegriff (vor allem an alle Leserinnen und Leser aus der DDR)

  • Seit wann wurden Gesetze als "allgemein-notwendige, wesentliche Zusammenhänge" definiert? Gab es dazu Alternativvorschläge (statt "Zusammenhang" "Verhältnis" zu wählen oder ähnliche)?
  • Gibt/gab es Studien zum Verhältnis dieser Definition zu üblichen nichtmarxistischen Definitionen? Welche dieser wären besonders anschlußfähig, welche widersprechend?
  • Welche Themen wurden besonders heiß diskutiert und mit welchem Ergebnis (wer vertrat mit welchen Argumenten welche Meinung, wurde sie abschließend geklärt, blieb sie bis 1990 offen?)
  • Gesetz - Kausalität
  • Möglichkeit und Zufall im Gesetz
  • Historizität oder Zeitlosigkeit von Gesetzen
  • statistischer Gesetzesbegriff nach Hörz
  • Gibt es technische Gesetze (nicht nur "Gesetze der Technikentwicklung", sondern in Analogie zu physikalischen Gesetzen)

Wie "öffentlich" fanden diese Debatten statt?

  • Wurde die Erkenntnis der Bedingtheit (d.h. der möglichen Veränderungen) und der Modifikabilität von Gesetzen gesellschaftsstrategisch (in Wissenschaft und/oder Politik) ausgewertet ?
  • bezüglich: Auswahl aus einem Möglichkeitsfeld (unter Alternativen)
  • zusätzlich: zur Kreation neuer Möglichkeiten
  • Welche Fragen sind aus Ihrer Sicht noch wichtig?

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Die ersten Kommentare sind bereits online:

P.S.:
Diese ganzen Ausführungen haben nach dem Ende der DDR keinesfalls nur historischen Charakter für die "Fußnoten der Weltgeschichte." Keine 10 Jahre danach hörte ich mit Entsetzen:
"Man kann sich der Globalisierung nicht entziehen, sie hat fast so etwas wie den Charakter eines Naturgesetzes angenommen, man muss damit leben, wie man mit anderen Naturgesetzen leben muß" (Schusser, Siemens AG, Konzernbeauftragter EXPO 2000, 1998).

 

Literatur:
Anissimow,
Die Wechselbeziehungen der Kategorien des Gesetzes, der Kausalität und der Zufälligkeit, in: Über die Kategorien des dialektischen Materialismus, Berlin, 1956
Bericht von Egon Krenz u.a. ehemaligen Mitgliedern des Politbüros an den 1. Außerordentlichen Parteitag der SED, in: Protokollband "Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS" 1999
Bollhagen, P. (1967), Gesetzmäßigkeit und Gesellschaft, Berlin
Bloch, E., Das Prinzip Hoffnung, Franfurt am Main 1985
Bloch, E., Freiheit, ihre Schichtung und ihr Verhältnis zur Wahrheit, in: Das Problem der Freiheit im Lichte des wissenschaftlichen Sozialismus, Konferenz der Sektion Philosophie der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 8.-10. März 1956 ("Freiheitskonferenz")
Engels, F. (1894), Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. In: MEW Bd. 20
"Freiheitskonferenz": Das Problem der Freiheit im Lichte des wissenschaftlichen Sozialismus, Konferenz der Sektion Philosophie der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 8.-10. März 1956, Auszüge aus dem Protokoll, Hrsg.v. S. Heppener und W.Hedeler, Berlin 1991
Gehlhar, F., Kosmos und Entwicklung II, Historizität des Kosmos und Universalität der Naturgesetze (1) und (2), in: Astronomie und Raumfahrt , S. 106-110 (1) und Astronomie und Raumfahrt, S. 140 und 143 (2)
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Gropp, R. O., Zufall und Notwendigkeit, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, 1952/53, Heft 3, Gesellschaftswiss.-sprachwiss.
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Zak, C., Rezension: Heuer, U.-J., Gesellschaftliche Gesetze und politische Organisation, Berlin 1974, in DZfPh, 4/76, S. 499-502
Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie in der DDR, Berlin 1979 (=Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Philosophie in Deutschland, Band III), hrsg.v. Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED
 



Zum Projekt "Gesetze in Natur und Gesellschaft"

Herbert Hörz: Bemerkungen zu A. Schlemm "Vom Umgang mit dem Gesetzesbegriff in Wissenschaft und Politik der DDR"

Herbert Hörz: Quantenphysik und Lebensgestaltung - Bemerkungen zur Kritik von Klaus Fuchs am mechanischen Determinismus


 
Frank Richter: "Gesetzesbegriff und Technikgesetz"
 
siehe auch: Meine Erfahrungen mit der DDR-Philosophie
und Gesellschaftswissenschaft in der DDR



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