Die Delegierung der Kinder

 
Wir entlassen unser Kind hinaus in die weite Welt und freuen uns über seine Fortschritte... Wie schön, zeigt es doch, dass wir der Falle, unsere Kinder zu lange an uns zu binden und nicht selbständig werden zu lassen, entkommen sind. Aber wie immer hat fast jedes Gute auch eine Gefahr in sich. Was kann jedoch schlecht sein am Gehen-lassen der Kinder, wenn es keine Ausstoßung ist?
Helm Stierlin nennt als mögliche Beziehungsformen im Rahmen des Erwachsenwerdens der Kinder drei mögliche Beziehungsmodi: das Binden, das Ausstoßen und das Delegieren (Stierlin 1974: 49). Beim Binden überwiegen die Kräfte des Familienzusammenhalts; die Selbständigkeit der Kinder soll eher verzögert werden. Beim Ausstoßen werden die Kinder zu einer für sie zu frühen Ablösung gedrängt, weil sie den Eltern als eine Art Ballast für ihr eigenes Leben empfunden werden. Die Delegation klingt da schon angenehmer. Was soll daran schlecht sein?

Bei der Delegation bleiben die Eltern im Widerspruch befangen, einerseits ihre Kinder binden zu wollen, aber sie auch andererseits fortschicken zu wollen. "Sie wollen von ihnen profitieren, aber ebensosehr von ihnen in Ruhe gelassen werden." (ebd.: 66). Problematisch ist das dann, wenn sie ihr Kind quasi als ihr Stellvertreter delegieren - d.h. wenn es sein Leben nicht als eigenständiges Subjekt führen soll und kann, sondern das Objekt der Bedürfnisbefriedigung der Eltern bleibt. Das Kind wird "zur Verlängerung ihres Selbst" (ebd.). Dem Kind wir Autonomie gewährt, aber nur insofern es die Wünsche der Eltern erfüllt. Das kleinere Kind wird auf Botengänge geschickt, später dient es dazu, dem Erwachsenen in Kämpfen - z.B. mit dem Partner - zu helfen und es zu unterstützen. Oder es wird quasi als "Versuchsperson" ausgeschickt, um Erfahrungen zu sammeln und Erkundungen durchzuführen im Auftrag des Erwachsenen. Oder der Delegierte "muß die unerfüllten Strebungen und Hoffnungen eines Elternteils erfüllen" (ebd.: 69), sie einen Schulabschluss schaffen u.ä. "Der Delegierte, der engagiert wird, um stellvertretend für Befriedigung zu sorgen, muß oft eine Ersatzfunktion erfüllen. Er muß den Eltern die Erfahrungen verschaffen, die sie versäumten, als sie selbst noch Jugendliche waren. Er muß nun die unfertig gebliebene und frustrierte Jugendentwicklung seiner Eltern nachträglich ausgleichen; deshalb muß er sozusagen für eine doppelte Dosis jugendlicher Aufregung sorgen, um für sich selbst und für seine Eltern genug zu haben." (70f.)

All diesen Fällen ist es gemeinsam, dass die "Aufträge der Delegierten [...] von den Bedürfnissen seiner Eltern diktiert" werden (ebd.: 67).

"Indem sie ihr Kind zum Delegierten machen, schicken sie es fort, d.h. ermutigen es, den Kreis der Familie zu verlassen. [...] Indem sie es fortschicken, halten sie es aber auch fest. Sie vertrauen ihm einen Auftrag an, machen es zu ihrem Stellvertreter, zur Verlängerung ihres Selbst." (66).

Typisch für solche Beziehungen ist es wohl auch, dass letztlich erwartet wird, dass das Kind wieder zurück kommt.


Literatur:
Stierlin, Helm (1974): Eltern und Kinder. Das Drama von Trennung und Versöhnung im Jugendalter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978.

 
Zur Lebenshilfe

[Homepage] [Gliederung]






- Diese Seite ist Bestandteil von "Annettes Philosophenstübchen" 2007 - http://www.thur.de/philo/lh/stierlin.htm -