Was fruchtbar ist allein ist wahr... (Goethe)

Horst-Eberhard Richter verbindet in seinem Text "Niederlage des Intellekts" im FREITAG vom 23. Juli 2004 viele Krisenmomente unserer Zeit. Dabei muss er konstatieren, dass die Hoffnung auf einen erstarkenden Intellekt, wie sie Freud noch 1933 geäußert hatte, enttäuscht wurde. Im Gegenteil: Es verbanden sich großartige Fortschritte in den wissenschaftlich-technischen Revolutionen mit schlimmsten politischen und menschlichen Katastrophen. Richter erinnert deshalb berechtigt an die Grenzen des von der Wissenschaft Erwartbaren. Demgegenüber will er wieder verstärkt auf ein Wachwerden der Empfindsamkeit setzen.
Richter belegt eindrucksvoll, dass insbesondere die Naturwissenschaften die Hoffnungen, die in sie gesetzt wurden, nicht erfüllten. Aber es kommt noch viel ärger: sie haben seiner Meinung nach auch etwas zu tun mit dem Verlust der Empfindsamkeit und dem Erstarken von Machtinteressen.

Indes welche empörende und wahrhaft seltsame Tatsache: da erzeugte die Natur ein einziges mit Vernunft begabtes, für den göttlichen Geist empfängliches Lebewesen, einzigartig an Gutwilligkeit und Einigkeit - und dennoch finde ich eher eine Stätte bei den wilden Tieren oder dem unvernünftigen Vieh als bei den Menschen. (Erasmus von Rotterdam)

Die Krisen und die wachsende Barbarei, die durch wissenschaftliche Resultate weder verhindert, sondern vielleicht sogar angeheizt werden, sind kaum noch zu übersehen. Die Wissenschaft versprach, unser Leben zu bereichern und uns hoffnungsfrohe Wege in die Zukunft zu zeigen. Sie hat dieses Versprechen gebrochen. Wer ist da nicht enttäuscht?
Dieser Enttäuschung kann immer und immer wieder Luft gemacht werden. Aber tritt dadurch wirklich Erleichterung ein? Das Naheliegendste wäre nun, sich der Mühe der Wissenschaft zu entledigen. Haben wir nicht schon in der Schule unter so vielen abstrakten Themen gelitten? Also weg damit, befreien wir uns von dieser Macht! Was haben wir schon zu verlieren? Ja, was haben wir zu verlieren? Wissenschaft trat einmal unter dem Banner des Lichtbringers in tiefer Dunkelheit, als Ermächtigung der Schwachen an. Francis Bacon wird oft kritisiert für seinen Anspruch, Wissen und Macht zu verbinden. Aber es geht bei ihm nicht um Macht über andere Menschen oder niedere Absichten z.B. der Natur gegenüber.

Endlich möchte ich Jedermann ein für allemal erinnern, der wahren Ziele der Wissenschaft eingedenk zu bleiben. Man soll sie nicht erstreben des Geistes wegen, nicht zum Streit, nicht am Andere zu verachten, nicht des Vortheils oder des Ruhmes und der Macht oder anderer niederer Absichten willen, sondern zum Dienst und Nutzen für das Leben; in Liebe sollen sie es verbessern und leiten. (Francis Bacon)

Wie ist aus diesen hehren Ansprüchen ein "ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können" (Bertolt Brecht) entstanden? Wieso kann überhaupt menschliche Leistungsfähigkeit gemietet werden, noch dazu "für alles"? Liegt das an denen, die anders nicht überleben können, als sich mieten und kaufen lassen zu müssen? Spätestens Hartz IV zieht jedem Wissenschaftler, der eventuell noch denkt, nicht akzeptablen Forschungsaufträgen im Rüstungs-, Atomindustrie- oder sonstigem Gewerbe entkommen zu können, die erpresserischen Fesseln immer enger um den verzweifelnden Kopf. Was soll ein junger Mensch heute machen, der vom gestirnten Himmel über ihm magisch angezogen wird, der sich begeistert fragt, was die Welt im Innersten zusammen hält? Geistige Prostitution ist das Mindeste, was ihr oder ihm bevor steht. Liegt das aber unbedingt am Thema des Interesses an der Ordnung des gestirnten Himmel und der Funktionsweise der Welt? Interessen können sowieso nicht verboten werden, wir wollen hoffen, dass es immer wieder neugierige, wissensdurstige Menschen gibt, die sich "trotz alledem!" auf den Weg der Suche nach Wissen begeben.

"Ich halte dafür, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern" (Bertolt Brecht)

Spätestens im Studium, das nun bald noch mehr Schuldentilgung und selbst-unternehmerische Orientierung erzwingt, ist der Wissensdurst, d.h. die "Betätigung eines originellen Wahrheitsgefühls" (Goethe) wohl kaum noch aufrecht zu erhalten. Gefühle? Vergiß sie! Entwickle deine Vermarktbarkeit, designe dich selbst zum verkaufbaren "Zwerg" auf dem Arbeits-Slavenmarkt! Es geht nicht mehr nur um Profitabilität, sondern ums Überleben! Nicht alle vergessen, dass sie sich einst mit durchaus wunderbaren Gefühlen für Wissenschaft interessiert haben. Viele verdrängen es und diese Verdrängung führt zu einer Ansicht, dass die Wissenschaft nichts mit Gefühlen zu tun haben darf und dass sie ihnen sogar entgegen steht, wie Horst-Eberhard Richter meint.

"Du gleichst dem Geist, den du begreifst. / Nicht mir!" (Goethe)

Der Möglichkeit nach sind Fühlen und Denken jedoch gar nicht so weit auseinander. Menschlicher Geist ist nicht wirklich auf seiner Höhe, wenn er nicht Empfindsamkeit enthält und Gefühle sind für Menschen nichts, was außerhalb seines Geistes läge. Wenn wir uns Denken, Verstand und Vernunft nur als abstraktes, lebensfeindliches Theoretisieren vorstellen können, bleiben wir im hilflosen Gegensatz zwischen herzlosem Denken und verinnerlichtem Fühlen stecken. Dass sich Denken und Fühlen fremd bleiben, wird unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen nahe gelegt. Und sobald ich eines dieser Momente gegen das andere auszuspielen versuche, spiele ich das Spiel mit und bestärke diese entfremdenden Verhältnisse.
Noch mehr bestärke ich sie, wenn ich auf mögliches Wissen verzichte. Ganz im Sinne des so oft gescholtenen Bacon möchte ich eine Sichtweise auf Wissenschaft vorschlagen, die sie uns neu gewinnen lässt und uns gleichzeitig einen Standpunkt verschafft, von dem aus ihre Fehlentwicklungen und ihre Missbräuche inhaltlich kritisierbar werden.

"Der Mensch muß bei dem Glauben verharren, dass das Unbegreifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen." (Goethe)

In der Wissenschaft erkunden wir, wie sich die Objekte der jeweiligen Wissenschaft verhalten können. Es geht nicht darum, Dingen oder Ereignisse einfach nur zu beschreiben, sondern herauszubekommen, wie etwas zusammenhängt. Wenn es darum geht, wie sich etwas verhalten kann, nicht nur, wie es sich gerade verhält, hat das was mit dem Erforschen von Möglichkeiten zu tun. Zu wissen, was möglich ist und was nicht, ist ungemein wichtig, wenn ich mit meinem eigenen Handeln Ziele erreichen will. Es gibt dabei zwei Horizonte. Der erste, naheliegende ist jener, der innerhalb gegebener Rahmenbedingungen verbleibt und sich mit den Möglichkeiten zufrieden gibt, die hier vorhanden sind. Aber der zweite Horizont ist jener, der auch die Rahmenbedingungen als veränderbare betrachtet. Die dann vorhandenen Möglichkeiten sind auf den ersten Blick nicht ersichtlich, ich brauche besondere Mittel, die mir dabei helfen, sie zu erkunden. Es ist die Wissenschaft, die uns hilft zu erforschen, unter welchen Bedingungen welche Möglichkeiten vorliegen. Mit diesem Wissen können wir selbst Bedingungen verändern und auf diese Weise erreichen, was wir tun möchten. Dieses Tun kann dann einerseits instrumentell, in herrschaftlichen Machtverhältnissen entfremdet und "gekauft" sein, es ist andererseits nach wie vor die Grundlage für bewusstes eigenes Handeln, was zum menschlichen Leben dazu gehört.

Indem die Wissenschaft hilft zu erkennen, was unter welchen Bedingungen möglich ist, steht sie in gewissem Sinne "zwischen" uns und der Welt da draußen. Sie beschreibt nicht einfach, was da draußen vorhanden und gegeben ist. Dann würde sie keine Möglichkeiten (unter verschiedenen, auch gerade nicht gegebenen Bedingungen) erkunden, sondern sich auf die gegebenen Bedingungen beschränken und nur aufzählen, was unter gegebenen Bedingungen möglich ist. Die gegenwärtigen Ökonomieschulen sind zum Beispiel derartig reduzierte Wissenschaften, weil sie die Bedingungen der voneinander isolierten Warenproduzenten und -konsumenten nicht als veränderbare erkennen. "There is no alternative" ist deswegen auch ihr Credo. Die Kritik der Politischen Ökonomie von Marx dagegen stellt die Veränderbarkeit der Bedingungen als wesentlich in Rechnung. Wissenschaft bildet die Welt nicht einfach so ab, wie sie ist. Ihr Thema sind die Möglichkeiten. Wir Menschen können auf wissenschaftliche Weise Möglichkeiten erkennen. Warum brauchen wir dazu Wissenschaft? Wenn und dort wo das Mögliche offen ersichtlich ist, brauchen wir sie wirklich nicht. Aber leider legen sich die gerade gegebenen Bedingungen wie Sedimente über die Grundlagen der anderen Möglichkeiten, dass sie einfach nicht mehr auf den ersten Blick ersichtlich sind. Gesellschaftlich ist es uns historisch vorgegeben, dass wir in einer Welt leben, in der alle Welt nur vom Kaufen und Verkaufen leben kann. Auf den ersten Blick kann es auch nichts anderes geben - "There is no alternative". Aber es sind andere Lebens- und Wirtschaftsformen möglich, wenn die Bedingungen des Lebens und der Wirtschaft anders geregelt werden. Dies zu erkunden wäre Aufgabe von Wissenschaft über Gesellschaft. Solch eine Wissenschaft kann dann auch nicht anders als kritisch sein - oder sie ist keine Wissenschaft! Auch in den Naturwissenschaften wird unterschieden zwischen Offensichtlichen und dem anders Möglichen. Offen ersichtlich ist es, dass eine Stahlkugel schneller fällt als eine Feder. Unter der Bedingung, dass sich keine Luft oder ein anderes Medium im Fallweg befindet, fallen beide aber gleich schnell. Weil sich die Wissenschaft auf diese Weise wirklich vom real gegebenen Leben abkehrt, ruft sie oft Abneigung hervor.

"Wissenschaften entfernen sich im Ganzen immer vom Leben und kehren nur durch einen Umweg wieder dahin zurück." (Goethe)

Der Vorzug der Wissenschaft ist es, uns mitzuteilen, wie wir Bedingungen so verändern können, dass wir Neues und hoffentlich Besseres tun können. (Völlig statische Gesellschaften brauchen also Wissenschaft nur, um in gewissem Rahmen Bedingungsveränderungen von außen, z.B. Naturkatastrophen oder natürliche Klimaverschiebungen, auszugleichen). Dieser Vorzug der Wissenschaft ist erkauft mit dem Nachteil, dass sie sich in gewisser Weise vom Leben entfernt. Wie wir gesehen haben, soll sie sich aber nur so weit vom Leben entfernen, dass sie die Sedimente des Gegebenen durchdringt und das Veränderbare aufzeigt.

"Unser Fehler besteht darin, dass wir am Gewissen zweifeln, und das Ungewisse fixieren möchten. Meine Maxime bei der Naturforschung ist: das Gewisse festzuhalten und dem Ungewissen aufzupassen." (Goethe)

Anhand dieser kurzen Darstellung können wir uns auch erklären, wo die Grenzen der Autorität der Wissenschaft liegen. Wissenschaft bildet nicht die Welt ab, wie sie ist. Sie ist deshalb keine "Weltanschauung". Sie ist es auch nicht in dem Sinne, dass sie uns sagt, was wir tun und lassen sollten. Möglichkeiten erforschen zu wollen schließt von vornherein aus, die Existenz der Menschheit aufs Spiel zu setzen. Schon aus wissenschaftlichen Gründen müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler solche Aktivitäten ablehnen. Dass "Zwerge" in unserer entfremdeten Gesellschaft dies nicht tun, sondern uns Lebenschancen beschneiden, zeigt nur, dass sie sich nicht nur verkauft haben, sondern dass sie auch nicht mehr wissenschaftlich, d.h. kritisch und selbstkritisch tätig sein können. Ich denke nicht, dass hinter ihrem Verhalten ein "geheimer Machtwillen" steckt, wie es Horst-Eberhard Richter vermutet. Wenn ich mir meine eigene Praxis als Physikerin anschaue, wenn ich die inzwischen vielseitigen Erfahrungen mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerin Revue passieren lasse, so finden wir uns sehr häufig in Widersprüchen, die mit der existentiellen Erpressbarkeit unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun haben. Das Gewissen muss meist schweigen, wenn ich erkenne, dass ein Kunde der Firma, für die ich arbeite, auch Militärtechnik herstellt. Wenn ich diesem Gewissen nicht Schweigen gebiete, bekomme ich nicht einmal das ALG II, weil ich dann zumutbare Arbeit ablehnen muss. Die WissenschaftlerInnen und Wissenschaftler, die ich kenne, können auch längst nicht "alles Machbare machen", sondern sie können und müssen genau jenes machen, was Kapitalgebern Profit verspricht, nicht mehr und oft viel weniger. Sie leiden tagtäglich darunter (wenn sie es nicht verdrängen), dass sie nicht einmal ihren wissenschaftlichen Maßstäben und Orientierungen entsprechend handeln können, geschweige denn noch anderen moralischen oder gefühlsmäßigen Regungen folgen können. Was nützt es, Empfindsamkeit statt Intellekt einzufordern? Wir würden die Widersprüche nur noch mehr fühlen, ohne ihnen wenigstens eine geistige Distanz, geschweige denn die Erkundung von Möglichkeiten der Überwindung entgegen stellen zu können. Die Psychotherapiepraxen können sich über Kundschaft freuen. Natürlich verdrängen wir noch viel zu viel. Wenn ich aber befürchten muss, beim Aufdecken meiner Verdrängungen danach mit dem hervorgebrochenen Elend nur ohnmächtige Hoffnungen und Parolen zu hören, so bleibe ich doch lieber geistig gesund und verdränge. Etwas mutiger bin ich erst dann, wenn ich erfahre, dass ich den aufgebrochenen und bewusst gewordenen Widersprüchen mit Mitteln begegnen kann, die mir tendenziell eine Aussicht bieten, die Probleme wirklich zu lösen. Auch wenn noch nicht alle Antworten vorliegen: ohne die Möglichkeit, Möglichkeiten zu erkunden, also ohne kritische Wissenschaft, werde ich damit keinen Schritt vorwärts kommen.

Natürlich hat die gegenwärtige Institution Wissenschaft im gesellschaftswissenschaftlichen noch im naturwissenschaftlichen Bereich recht wenig mit diesen Ansprüchen an Wissenschaftlichkeit zu tun. Das kann mich aber nur umso mehr dazu bringen, diesen kritischen Charakter in der Wissenschaft weiter zu entwickeln - aber nicht, den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, auf intellektuelle Bemühungen aufzugeben. Wissenschaft muss kritisch werden im Sinne des Aufdeckens der Möglichkeiten hinter dem ersten Horizont - oder sie verfällt immer wieder Kritiken, die beiden Seiten nicht wirklich weiter helfen.


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