Politische Regulation

 

Die meisten Staaten verlieren finanzielle Steuerungsmöglichkeiten, weil sie durch Steuersenkungen und "Kapitalflucht" ausgetrocknen.
 

Der Anteil der Kapitalsteuern am Gesamtsteueraufkommen sank in der Bundesrepublik zwischen 1980 und 1994 von 23,6% auf 11,3%.

 

Die Anteile der Steuern verschoben sich auffällig von Unternehmenssteuern in Richtung Steuern für Arbeitende und Verbraucher:

(nach isw-grafik 1997)

 

Aus dieser sinkenden finanziellen Regulierungsmacht und der Globalisierung und Konzentration des Kapitals ergibt sich:

  • "Staaten müssen um die Gunst der Investoren konkurrieren" (dt. MacKinsey-Chef Henzler 1995, S. 20)
  • "Die großen Anleger wiesen den Regierungen den Weg." (Sauga u.a. 1995, S. 17).
  • "Der Einfluß der internationalen Großanleger wächst. Immer häufiger müssen sich Regierungen ihrem Druck beugen." (Siems 1995, S. 26)
  • "Außerdem haben die Tarifpartner ihre zentrale Stellung im ökonomischen Geschehen verloren; ... Inzwischen entscheiden auch die Finanzmärkte, wo es mit der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Anbieter langgeht." (Wolff 1995)
    (Ich zitiere an dieser Stelle durchaus bewußt die WirtschaftsWoche, weil die Autoren hier ungewollt den wahren Charakter der Machtverhältnisse in dieser Gesellschaft aussprechen.)

Jedoch dieses "Ende des Nationalstaates" wird vor allem dort beschworen, wo der Staat als Mittel der Umsetzung von sozialen und ökologischen Interessen geschwächt wird. Fürs Kapital erhält er seine unterstützenden Funktionen und baut sie sogar aus. Er verobjektiviert und verhüllt durch sein Institutionensystem weiterhin die reale Macht. Außerdem dient er der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Reproduktion an den Stellen, an denen (und solange) das Kapital kein Profit machen kann (Infrastruktur) (vgl. Agnoli 1998).

Seine Vertreter arbeiten oft auch selbst direkt daran, die Machtverhältnisse im Interesse des Kapitals zu gestalten: Multilaterales Investitionsabkommen (MAI)

Die neuen Aufgaben des Staates

Wenn jedoch so getan wird, als verlöre der Nationalstaat überhaupt jede Bedeutung, so ist das ein verhängnisvoller Irrtum. Er übernimmt die Aufgabe, die Gesellschaft an die veränderten Weltmarktbedingungen anzupassen.

Damit die gesellschaftliche Reproduktion angesichts der komplexen hochtechnisierten Produktion überhaupt störungsfrei möglich bleibt, ist eine effektive politische Regulierung weiterhin notwendig. Sie ändert nur ihre Arbeitsweise - wir konstatieren in Deutschland derzeit eine Häufung disziplinierender Gesetzesänderungen (im Bereich des Arbeitszwanges für Erwerbslose beim Spargelstechen, bei der Ausweitung der Kontrollbefugnisse für Beamte etc...). Dabei werden scheinbar begründende Anlässe immer gefunden und immer mehr für prinzipielle (fast unbemerkte) Änderungen des Grundverständnisses vom Staat ausnutzt.

Gerade indem er sich als Verwaltungsstaat den selbst mit erzeugten "Sachgesetzlichkeiten" beugt, kanalisiert er staatlich beeinflußte gesellschaftlichen Aktivitäten (Infrastruktur, Bildung, etc...) innerhalb der Interessendurchsetzung des Kapitals.

 

Ausgerechnet als die materiellen Reichtümer angesichts der Produktivitätssteigerungen gegen Ende des vorigen Jahrhunderts enorm zunahmen, begann sich die Ökonomie aus der Gesellschaft zu "entbetten" und der Markt oktruierte seine Logik auch der Politik. Seitdem verwalten Experten im Staat ganz offensichtlich eher die Sachzwänge, statt demokratische Gestaltungsmacht einsetzen zu können (vgl. Altvater, Mahnkopf 1997).

 

Tatsächlich werden die finanziellen Handlungsspielräume des Nationalstaates angesichts der globalen Mobilität des Kapitals geringer ("das Kapital ist scheu wie ein Reh"). Es bestehen jedoch weitere Handlungsspielräume, als sie die bundesdeutsche Regierung beispielsweise durchsetzt. Während es in der Schweiz durchaus funktioniert, daß die Kantone sehr unterschiedliche Steuerrichtlinien haben – und auch die mit den höchsten Steuern nicht unter Kapitalflucht leiden, weil sie andere vorteilhafte Bedingungen bieten – verzichtet die Bundesrepublik auf ca. 100 Milliarden DM im Jahr, die sie ohne die realisierten Senkungen von Körperschafts-, Einkommens- und Gewerbesteuer mehr einnehmen würde (Roth 1995).

 

Gleichzeitig schenkt der Staat bspw. dem Siemens-Konzern (von dem wir oben lasen, daß er enorme liquide Mittel auf den Weltfinanzmärkten hat) die moderne Chipfabrik bei Dresden beinahe: 1,1 Milliarde DM der 2,7 Milliarden Investitionssumme werden vom Bund und dem Freistaat Sachsen getragen, 26 ha Werksgelände werden zu Minipreisen zur Verfügung gestellt, Erschließungs- und Infrastrukturkosten übernimmt zum großen Teil Dresden und Sachsen, die EU hat 450 Millionen DM dazugegeben und Siemens kann Sonderabschreibungen für seine Investitionen in Anspruch nehmen.

 

Auch die europäische Einheit wird von vornherein so konstruiert, daß sie den Kapitalinteressen unter neuen Bedingungen entspricht und höchstens sehr vermittelt auch den Interessen der in ihren Ländern lebenden Menschen. Es entsteht eine Art "neuer Industriefeudalismus" (Schwendter 1995).

Aufgrund der sich regional durchaus radikal auswirkenden ökonomischen Umverteilungen gewinnen Nationalstaaten sogar über ihren "versachlichenden" und "objektivierenden" Rahmen hinaus wieder eine Bedeutung als einheitsstiftende und repressive ordnungserzwingende Macht.

In der deutschen DELPHI-Befragung 1998 schätzen die befragten Experten ein, daß nach der Privatisierungswelle vom Staat lediglich die Gewährleistung der inneren Sicherheit (über Polizei und Strafvollzug) übrigbleibt.

"Regulierung, Disziplinierung, Schikanierung der Armen: das ist die Hauptaufgabe des Staates im 21. Jahrhundert." (Veerkamp 1997, S. 26)

 

Viele Rechtsverschärfungen in der Bundesrepublik 1997 und 1998 lassen sich genau in diese Tendenz einordnen (Meldepflicht der Taxifahrer an der polnischen Grenze über Ausländer, erweiterte Kontrollvollmachten der Beamten, Diskussionen zur Verschärfung des Strafvollzugs, Gendatei...) , wenn auch jede Einzelentscheidung isoliert diskutiert, "begründet" und durchgesetzt wird.

 

"Ob man die französische Gesetzesvorlage zur Meldepflicht von Gästen nimmt oder den Gesetzentwurf in den USA, demzufolge Ärzte und Lehrer Einwanderer ohne ordnungsgemäße Papiere den Behörden anzuzeigen haben: Die öffentliche Gewalt verschafft sich nach und nach die Befugnis, "sich in das Privatleben jedes Bürgers einzumischen und ihn auf Schritt und Tritt zur Rechenschaft zu ziehen"." (Bonnet, E., zit. in Duclos 1997, S. 11).

 

Die Tätigkeit des Staates bekommt ganz bestimmte Richtungen. Auch ein Unternehmensvertreter warnt vor der Illusion, daß der Staat überhaupt keine Regelungsmacht mehr habe:

"Gemach, gemach! Der Staat hat auf das Wirtschaftsgeschehen immer noch mehr Einfluß, als uns allen lieb (! A.S.) sein kann - zumal in Deutschland. Rund 50 Prozent unseres Bruttoinlandprodukts geht durch öffentliche Hände." (Baron 1995, S. 3)

 

Nachgewiesenermaßen stiegen die regulatorischen Maßnahmen z.B. in Großbritannien seit dem Beginn der "Deregulierung" (von 1980 bis 1991 um 600%!, nach Altvater, Mahnkopf 1997, S. 137). Dies sind inhaltlich genau die Regulationen, die dem Kapital den Weg freimachen im globalen Konkurrenzkampf, der über die Interessen der Menschen hinweggeht.

 

Gerade die MAI-Verhandlungen, die von den Regierungen sogar den eigenen Parlamenten gegenüber geheim gehalten wurden, zeigen einen größeren Handlungsspielraum an. Es gäbe durchaus die Chance, andere Wege zu gehen – leider kann dies geradezu in eine nationalistische Orientierung "gegen das internationale Kapital" umschlagen.

Vielleicht jedoch werden die MAI-Praktiken auch endgültig dazu führen, daß das Kapitaldiktat so offensichtlich wird, daß Widerstandsbewegungen wachsen, die progressive Alternativen zur kapitalbeherrschten Gesellschaft finden und realisieren.


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