Sartre, Ich, Annegret Stopczyk und die Reflexion

Jean-Paul Sartre unterscheidet 2 Bewusstseinsbereiche des Menschen, die nicht klar voneinander getrennt werden können, sondern untrennbar miteinander verbunden sind. Das Reflexive oder Propositionale umfasst alle diejenigen Denkprozesse, die in Worte gefasst und in Sätzen ausgedrückt werden können. Präreflexiv sind Empfindungen, Gefühle und Handlungsvollzüge, welche nicht sprachlich sind. Wir sind uns beider Bewusstseinszustände bewusst, können aber nur das reflexive Denken ausdrücken und mitteilen.
Der Prozess der Selbsterkenntnis (das Umwandeln von Gefühlen in Sprache) läuft bei Sartre folgendermaßen ab: Um über eine Empfindung sprechen zu können, muss man darüber reflektieren und das wiederum bedeutet, dass ein Abstand zur Empfindung hergestellt werden muss. In dem Moment hat die Person allerdings nicht mehr das ursprüngliche Gefühl, das sie spürte, bevor sie begonnen hat zu reflektieren. Es besteht also ein Abstand im Bewusstsein der Person, der verhindert, dass sie ganz bei sich ist, so dass sie selber nicht genau weiß, was sie eigentlich empfunden hat und gezwungen ist zu interpretieren.
Handlungsvorgänge sind präreflexiv, da wir, während wir handeln, nicht den Inhalt der Handlung selbst reflektieren. Um aber Handlungen zu planen, müssen wir vorher reflektieren. Deswegen bedürfen wir, um in der Welt zu wirken (also Handlungen zu planen), der Selbstdistanz, also des Abstandes zu uns selbst. Da wir ständig aufgefordert sind diesen Abstand zu wahren, sind wir selten ganz bei uns selbst.
Bedingt durch diesen Abstand können wir nur Einsicht in das gewinnen, was wir waren, als wir mit der Reflexion begannen. Wir können also bestenfalls reflexiv feststellen, was wir gerade gewesen sind, aber nicht, was wir jetzt im Augenblick sind.

Aber ist dieser Abstand wirklich nötig? Ist es nicht vielleicht aufgrund der engen Verbindung der beiden Bewusstseinsbereiche möglich, sich selbst zu erkennen, ohne sich von sich zu entfernen?
Wenn ich über meine Gefühle nachdenke, wahre ich keinen Abstand dazu. Nein, ich gehe sogar tiefer hinein. Ich lasse mich von Empfindungen durchfluten, während ich Worte suche, die dieses Erlebnis beschreiben. So kann ich sofort testen, ob ein Wort oder eine Beschreibung treffend ist oder nicht. Sowie ich ein passendes Wort finde, wird das Gefühl schärfer. Ich nähere mich seiner Beschreibung an, indem ich in mich hinein lausche und mit Worten spiele. Reflexion aus der Erinnerung heraus führt zu vielen Fehlern, weil die Erinnerung an ein Gefühl innerhalb von kurzer Zeit verschwimmt, wenn es noch nicht in Worte gefasst ist. Würde ich einen größeren Abstand zwischen meiner Reflexion und meinen Gefühlen schaffen, würde ein wichtiger Teil im Verständnis meiner selbst fehlen.
Nicht nur während der Beschreibung des Gefühls, sondern auch während der Suche nach der Sehnsucht, die dahinter steckt, schaffe ich keinen Abstand. Den brauche ich gar nicht. Die Intensität des Gefühls treibt mich dazu, sämtliche Handlungsmöglichkeiten, die sich aus der Sehnsucht ergeben, auszuloten.
Erst wenn ich das getan habe – das Gefühl beschrieben und verstanden, die Sehnsucht gefunden und Handlungsmöglichkeiten entworfen – kann ich mich von der tiefen Empfindung trennen. Dann kommt der Abstand wieder ganz von allein. Für das alltägliche Leben brauche ich diesen Abstand auch, um nicht ständig von Gefühlen überflutet zu werden. Aber für die Lösung wichtiger Fragen, für meine Selbsterkenntnis wäre er nur hinderlich.

Eine historische Sichtweise liefert Annegret Stopczyk-Pfundstein (Autorin von "Nein danke, ich denke selber" und "Sophias Leib"). Sie unterscheidet Logos (Vernunft) und Sophia (Weisheit). Der Logos entstand als Grundlage der europäischen (männlichen) Philosophie im antiken Griechenland. Er betont die Vernunft als den Gefühlen überlegen als das, nach dem sich der Mensch richten sollte. Zur damaligen Zeit war dieser Gedanke ein gewaltiger Fortschritt, weil er die Menschen (also freie Männer, weder Frauen noch Sklaven) von der rituellen Bindung an den Boden und der völligen Abhängigkeit von den Göttern befreite. Die logos-betonte Philosophie brachte es mit sich, dass Gefühle mit einem gewissen Abstand betrachtet wurden und die Vernunft das entscheidende Element wurde. Eine Unterscheidung zwischen Gefühl und Vernunft, Körper und Geist, Frau und Mann ist typisch für diese Art zu philosophieren. Dies führte unter anderem zur Unterdrückung der Frau als nicht-denkendes Wesen, dem Übergang vom Staunen zur sorgfältigen Analyse von Naturgegebenheiten (Galileo, Newton) sowie der logisch begründeten Moral (Kant).
Sophia hingegen, das weisheitliche Denken, verbindet das Gefühl und die Vernunft. In einer archaischen Form gab es weisheitliches Denken bei den sehr frühen Kulturen und heute noch bei naturnah lebenden Kulturen. Weisheitliches Denken ist auch ganzheitliches Denken, das Auswirkungen auf die Natur zum Beispiel bei jeder Entscheidung mit einbezieht. Mit Hilfe der Erkenntnisse aus einer 2000-jährigen Logos-Tradition in Europa ist es nun möglich, in einer neuen Form weisheitlich zu denken. Das bedeutet, die Gefühle als wesentlichen Bestandteil unseres Menschseins anzuerkennen ohne die Entwicklung der Vernunft wegzuwerfen und die gesamte abendländische Philosophie in Frage zu stellen. Das heißt, Gefühle vernünftig zu analysieren ohne einen künstlichen Abstand herzustellen. Sophia heißt der Mittelweg zwischen fühlen ohne zu denken (Esoterik) und denken ohne zu fühlen (Vernunft-Philosophie). Denken und Fühlen sind gleichzeitig möglich.



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