Umfassende Bereiche:


 

WELTANSCHAULICHE GRUNDLAGEN DER
EVOLUTIONÄREN ERKENNTNISTHEORIE

- Eine vergleichende und interpretierende Studie -

Wenn ich einmal wiederkomm...
1. Das Weltbild
1.1. Schichten des Seins
1.2. Reduktionismus-Problem
1.3. Das Wahrheits-Problem
1.4. Die Fulguration
2. Evolution und Erkenntnis
2.1. Wechselwirkung und Widerspiegelung
2.2. Erkenntnis als Subjekt-Objekt-Wechselwirkung
2.3. Vor-Theoretische Erkenntnis
2.4. Theoretische Erkenntnis
2.4.1. Zuständigkeitsbereich der EE
2.4.2. Wissenschaftliche Erkenntnis
a) Selektion im "Netz" der Wissenschaft
b) Entwurf und Konstruktion
c) Komplementarität
2.5. Aneignung der Welt
3. Der Mensch
4. Die Gesellschaft
5. Mein Anliegen

Literatur


0. WENN ICH EINMAL WIEDERKOMM...

... dorthin, woher ich kam
werde ich fremd sein an meinem Ursprung

Der Ursprung meines Interesses an der Biologie und Zoologie liegt tief in meiner Kindheit. Nicht die Wissenschaft war es, die mich hätte locken können, denn die kannte ich damals noch nicht. Es war ganz einfach das Bedürfnis, andere Wesen liebhaben zu können, die mich dann in die Berufsausbildung zum Zootechniker / Mechanisator brachte. Hier gab es auch tatsächlich ein Jahr "Verhaltenslehre", in der gelernt wurde, das Verhalten des Gebrauchsviehs im technisierten Umgang mit ihm wenigstens ein klein wenig zu berücksichtigen.

Das wars also nicht, was ich gesucht hatte. Inzwischen war mein Interesse längst weitergeschweift, hatte in Astronomie und später auch in der Philosophie interessantere Objekte gefunden.

Ein Physikstudium gab mir die Grundlage und die Arbeitslosigkeit die Zeit, mich endlich tiefer in eine Themenstellung einzuarbeiten. Das war das Selbstorganisationskonzept, in dem viele andere Themen aufgehen und eine Vertiefung erfahren können. Durch die notwendig integrierende Rolle der Selbstorganisation kann man hier keine Problemstellung isoliert betrachten.

Und nun begegnete ich auch immer öfter der Biologie, und auch einer speziellen Form der Erkenntnistheorie, die lange als "Karteileiche" in meinem Materialarchiv herumlag und auf einen Anlaß der Bearbeitung wartete.
...

Ich bin dadurch wieder zurück zu meinen alten Themen, der Tierforschung zurückgekommen - aber nicht dorthin, wo ich losgegangen bin. Alles, was ich seitdem gelernt habe, nehme ich mit und wende es an. Ich habe keinen Kreis durchschritten, sondern komme auf einer Spirale oberhalb meines Ausgangspunktes wieder an.

Durch die Beschäftigung mit der Evolutionären Erkenntnistheorie ist es möglich, auf dem Spiralweg der Erkenntnis eine Stufe nach oben zu gelangen.

Die gegenseitige Ergänzung verschiedener theoretischer und weltanschaulicher Gegensätze kann fruchtbar zu einem "Zusammenschnakkeln" (K.LORENZ) gebracht werden, wenn man der Versuchung widersteht, sich auf je einen Ansatz zu versteifen und blind zu werden für andere.


1. DAS WELTBILD

Auch Konrad Lorenz stellt seinem wichtigsten Werk zur Erkenntnistheorie (1) eine Darlegung seiner weltanschaulichen Grundlagen voran. Diese erwuchsen sicherlich aus der Lebenserfahrung eines beobachtenden Forscherdaseins. Beim Aufschreiben der Ergebnisse jedoch zeigt sich, daß es nötig ist, das "Betrachtungsraster" vorher klarzustellen.

1.1. Die Schichten des Seins

Das Weltbild der Evolutionären Erkenntnistheorie (im weiteren kurz EE genannt) beruht auf einem Realismus, der in der Welt ein komplexes Netzwerk von Beziehungen sieht (nach Wuketits 7,21).

Dieses ist hierarchisch organisiert, die einzelnen Stufen sind dynamisch verknüpft. Das bedeutet, daß die Gegenstände, Dinge und Prozesse der einzelnen Stufen über Entwicklungsprozesse miteinander verbunden sind.

Diese Vorstellungen stimmen bis fast in die verwendeten Begriffe gehende Übereinstimmung mit dem Weltbild des dialektischen und historischen Materialismus (im weiteren DHM) überein. Hier sprechen wir von einem universellen Zusammenhang der materiellen Welt. Über über Wechselwirkungen vermitteln Austauschprozesse eine ständige Bewegtheit dieser Materie. Die Verknüpfung der Wechselwirkung zwischen Teilen eines Ganzen und dem Ganzen führt zu einem hierarchisch-dynamischen Weltgefüge.

Für Ute Holzkamp-Osterkamp sind die Analogien zwischen EE und DHM so eindeutig, daß "sich ganze Passagen der Schriften der EE wie dialektischer Materialismus in "konspirativer Terminologie" lesen" (zitiert nach 10, S.242).

Unterschiede tauchen dann in der konkreten Bestimmung der oben allgemein bezeichneten Stufen und Hierarchieebenen auf.

Die EE bezieht sich auf NICOLAI HARTMANN. Nach HARTMANN unterscheiden sich die verschiedenen "Schichten der realen Welt" durch den "Besitz oder Nichtbesitz bestimmter Seinskategorien" (nach 1). Danach unterscheidet er:

  1. anorganisch- materielles Geschehen
  2. organisches Geschehen
  3. seelisches Geschehen
  4. geistiges Geschehen.

>Die Abgrenzung geschieht durch "die in ihnen obwaltenden Geschehensprinzipien" (4,247). Verstehen wir unter den Schichten allgemein die Strukturniveaus und unter Geschehensprinzipien die objektiven mäßigkeiten, so entdecken wir wiederum die Übereinstimmung mit dem DHM. Jedoch folgt letzterer in der konkreten Bestimmung der Stufen den moderneren Erkenntnissen der Wissenschaften und bleibt materialistisch (was ja eigentlich dem Realismus der EE mehr entspricht).

Die niveautypischen Gesetzmäßigkeiten konstituieren also jeweils die Strukturniveaus.

Strukturniveaus sind unterschieden:
Metagalaxis

  • Galaxis
  • Makrokörper organischer Bereich ( Organe, Organismen...)
  • organischer Bereich (Zellen)
  • molekularer Bereich
  • atomarer Bereich
  • subatomarer Bereich

da ihre Bewegung jeweils unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten entspricht.

Auch wenn die Stufen durch die in ihnen wirkenden, und nur für diese Stufen typischen, wesentlichen Beziehungen, die Gesetzmäßigkeiten bestimmt werden, heißt das nicht, daß diese Stufen miteinander nichts zu tun hätten.

E. MACH forderte aus seinem Prinzip der Kontinuität heraus ein fließendes Ineinanderübergehen der Niveaus. BOLTZMANN dagegen erkannte bereits, daß der Übergang zu anderen Niveaus diskontinuierliche Aspekte hat.

Nach der Interpretation von K.LORENZ kommt es beim Hinaufsteigen der Stufen zu einem "Hinzukommen neuer, komplexerer Prinzipien und Eigengesetzlichkeiten" (4,247). Dabei schließt "jeder höhere Bereich ... alle niederen ein, und der niedrige Bereich ist vom höheren unabhängig" (4,248).

1.2. Reduktionismus-Problem

Damit sind wir bei der Feststellung, daß es nicht möglich ist, die wesentlichen Beziehungen einer Ebene allein durch Beziehungen auf einer anderen Ebene, ob höher oder tiefer, zu erklären.

Konrad Lorenz sieht das deutlich:

"Alle sogenannten "Ismen" wie Mechanizismus, Biologismus, Psychologismus usw., maßen sich an, die für höhere Schichten kennzeichnenden und ihnen allen eigenen Vorgänge und Gesetzlichkeiten mit den Geschehenskategorien der tieferen zu erfassen, was einfach nicht geht " (Hervorheb. K.L. 1,61).

" Es ist völlig müßig, in den einzelnen, unabhängig funktio- nierenden Untersystemen oder in niedrigen Organismen nach jenen Systemeigenschaften zu suchen, die erst auf höherer Integrationsebene in Existenz treten" (1,65).

"Erlebnisbegleitete Nervenvorgänge sind etwas ganz anderes als unbeseelte nerven-physiologische Prozesse, un der Mensch, der als geistbegabtes Wesen ein kulturbedingtes überindiviuelles Wissen, Können und Wollen besitzt, ist darin wesensverschieden von seinen nächsten zoologischen Verwandten"(1,64).

Wenn es auch methodisch richtig ist, daß "Lebensprozesse physikalische und chemische Vorgänge sind", so darf man nach LORENZ nicht in den Fehler des ontologischen Reduktionismus verfallen, in Lebensprozessen nichts als physikalische und chemische Prozesse zu sehen (4,140). Anders gesprochen verficht LORENZ hier die Meinung, daß Leben mehr ist als Physik und Chemie und man kann weiterargumentieren, daß gesellschaftliches/kulturelles Leben auch mehr ist als biotisches Dasein.

 
  Diesen richtigen Erkenntnissen handelt er jedoch in seiner eigenen Praxis mehrmals und an wichtigen Stellen zuwider. Das beginnt z.B. mit der Feststellung, daß "die Gesetzlichkeiten...jeweils aus den ... Gesetzlichkeiten der Untersysteme erklärt werden müssen" (1,53).

Aus einfachen Analogieschlüssen (Pathologie) heraus drängt es ihn auch, im kulturellen Leben "nichts als" pathologische Zustände sehen zu wollen (1.31).

  1.3. Das Wahrheitsproblem

Aus den typischen Unterschieden, die die verschiedenen Strukturniveaus konstituieren, ergibt sich auch, daß es sinnvoll ist, die Beschreibung von Eigenschaften auf die jeweilige Stufe zu beschränken. Die Gesetzmäßigkeiten, auf deren Erkenntnis Wissenschaft zielt, beziehen sich ebenfalls jeweils auf bestimmte Niveauebenen. (Entwicklungsprozesse umfassen Wechselbeziehungen zwischen bestimmten, angebbaren Stufen und müssen konkreter erfaßt werden).

Es ist deshalb möglich, auf einem bestimmten Strukturniveau zu einer relativ wahren Erkenntnis der Beziehungen innerhalb dieses Niveaus und zu den anliegenden Niveaus zu gelangen. Der umfassende statistische Gesetzesbegriff (HÖRZ) erfaßt auch nicht reduzierbare Unbestimmtheiten, besonders bei Prozessen von nichtvorhersagbaren Qualitätsänderungen.

Dieser von LENIN herrührende Begriff der relativen Wahrheit grenzt sich ab von Erwartungen einer absolut vollständigen Erkenntnis aller Wechselwirkungen und Zusammenhänge, die allein schon wegen der Unerschöpflichkeit der Beziehungen unmöglich ist.

Jedoch ist er wichtig, um zu verankern, daß Erkenntnis relativ wahre Erkenntnisergebnisse ermöglicht, wenn man jeweils die Bedingungen der Erkenntnis als Teil der Aussage ansieht.

Diese Unterscheidung trifft die EE nicht. Sie verabsolutiert die Relativierung der Wahrheit jeglicher Erkenntnis, und konstatiert lediglich: "Es gibt kein sicheres Wissen."

Problematisch wird dies dann, wenn diese These die Grundlage für einen konstruierten Widerspruch zwischen biotischem "Erkennen" und dem Erkenntnishorizont des Menschen wird (R.RIEDL in 6,94ff.). Dieser Widerspruch entfällt sofort, wenn man die Gebundenheit der Erkenntnis (und damit ihre natürliche Unterschiedlichkeit) an die einzelnen Strukturniveaus betrachtet.


1.4. Die Fulguration

Abgesehen von den "Ausrutschern", an denen die EE ihrer eigenen Logik nicht mehr folgt (keine Anerkennung einer relativen Wahr heit für mögliche Erkenntnis, vollzogener Reduktionismus entgegen weltanschaulicher Ablehnung),führt die Anerkennung von diskontinuierlichen Unterschieden zwischen den Ebenen zu der Frage, wie diese überbrückt werden.

Die Antwort bei K.LORENZ lautet, daß sie überbrückt werden durch einen "Funken", einen "Blitz". Diesen Prozeß nennt er Fulguration.

Nun ist das Einführen eines Begriffs für etwas Unverstandenes noch keine Beantwortung einer Frage.

Er erklärt es aber auch genauer (1,50f.):

Das Neue ensteht meist durch Integration von bis dahin unabhängigen Systemen zu einer höheren Einheit. Dabei kommt es zu Veränderungen in ihnen, die sie zur Mitarbeit im System geeigneter machen (Goethe: Differenzierung und Subordination). Die Teile werden dabei immer verschiedener, so daß die Einheit des aus ihnen entstandenen Systems auf der Unterschiedlichkeit der Teile erwächst (Unity out of diversity - W.H.THORPE nach 1,51).

Unklare Aussagen macht K.LORENZ nun dazu, ob aus den Einzelteilen auf das Gesamtsystem zu schließen sei. Seine Aussagen dazu klingen recht aus der hohlen Hand geschöpft, je nach Bedarf. Natürlich legt er Wert darauf, daß die Fulguration ohne höhere Kräfte auskommt, daß keine geistigen Wesenheiten das Ganze steuern. Deshalb legt er auf eine Bedingtheit des Ganzen durch die Teile und nichts anderes (Übernatürliches) Wert (vgl. 1,53).

Damit hat er Recht. Wenn er aber dann ausrutscht und meint, das Neue Ganze sei aus der nächst-niedrigen Stufe heraus vollständig erklärbar, begibt er sich in die Nähe zu den Reduktionisten, denen das Ganze eben nicht mehr als die Summe der Teile ist. Dies lehnt er aber an anderen Stellen mehrmals explizit ab: "Die Fulguration trägt Charakter einer Erfindung." (1,55)

Zu betonen ist die Nähe des Begriffsinhalts der Fulguration mit dem Symmetriebruch, der aus der stheorie bekannt ist. In dieser würden die Anhänger der EE auch weitere schöne (und tiefergehendere, weil aus verschiedenen Wissenschaften verallgemeinerte) Ausarbeitungen derselben Prozesse finden, die sie auch bewegen. Leider zeigen sie sich an dieser Stelle sehr abstinent und tun weiterhin so, als gäbe es außer der EE nichts, was neu und wichtig ist in der Welt der Wissenschaft.

2. EVOLUTION UND ERKENNTNIS

Eine vergleichende Darstellung von EE und DHM ergibt auch hier wieder viele Parallelen. Es ist ein starkes Argument für den Materialismus, sich die Erkenntnisfähigkeit der Tiere und Menschen als Entwicklungsprodukt der Materie vorstellen zu können.

Jede mir bekannte dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie-Darstellung verweist auch auf diese Tatsache. K.LORENZ hätte sich hier nicht auf I.KANT beschränken müssen bei der Suche seiner philosophischen Ahnen, denn schon bei ENGELS und MARX finden sich entsprechende Passagen. Aber die müssen ihm ja nicht bekannt gewesen sein- heutzutage erfordert die wissenschaftliche Ehrlichkeit jedoch diese Ergänzung, auch wenn der politische Wind gerade in die Gegenrichtung des Verschweigens bestimmter Denktraditionen weht.

Um sinnvoll mit den Beiträgen der EE umgehen zu können, ist eine vergleichende Betrachtung der Begriffsbildungen unbedingt notwendig.

2.1. Wechselwirkung und Widerspiegelung

Der DHM trifft mit der Unterscheidung von Wechselwirkung und Widerspiegelung eine Voraussetzung, um Prozesse mit Qualitätsänderungen und Prozesse ohne wesentliche Qualitätsveränderungen voneinander unterscheiden zu können . Diese Unterscheidung macht es möglich, die auf materieller Wechselwirkung beruhenden Entwicklungsvorgänge (bei denen auch Qualitätssprünge auftreten) mit einem speziellen Instrumentarium zu beschreiben und in Unterscheidung dessen auch die Widerspiegelung als eine spezielle Form von Wechselwirkung, bei der es eben zu keinem Qualitätssprung kommt und die durch eine spezielle Subjekt-Objekt- Dialektik bestimmt ist

Der Begriff der Wechselwirkung ist dabei allgemeiner als der der Widerspiegelung. Das zeigt sich z.B. darin, daß sich zwar die Widerspiegelungsfähigkeit entwickelt, daß aber die Evolution selbst nicht nur durch die Evolution der Widerspiegelungsfähigkeit gekennzeichnet ist, sondern andere Wechselwirkungsprozesse einschließt (beim Menschen z.B. der materielle Stoffwechsel mit der Natur).

Die EE dagegen unterscheidet nicht, sondern für sie ist Evolution identisch mit Anpassung und diese ist identisch mit Informationsaufnahme, was wiederum identisch ist mit Erkenntnisgewinn.

Ausgehend von dieser Prämisse sind die entsprechenden Begriffe definiert. Information ist eben so allgemein definiert, daß in ihm alle Wechselwirkungsprozesse subsummiert sein sollen (7,270).

"Auf der elementaren Ebene der Selbstorganisation kann m.H. des Informations-begriffes "Leben" und "Erkennen" gleichgesetzt werden. In beiden Fällen handelt es sich um einen informationsgewinnenden Prozeß, der nach strukturell grundsätzlich gleichen Regeln oder Gesetzen auf verschiedenen Ebenen abläuft.

Gleichzeitig lassen sich aber auch durch genauere Spezifizierung des Informationsgewinns diese Ebenen auseinanderhalten. (OESER)"

In diesem Fall übernimmt die EE bewußt einen unwissenschaftlichen Alltagsbegriff entgegen der "üblichen" informationstheoretischen Definition. Das kann man machen - braucht sich aber dann nicht wundern, wenn die Aussagen auch nicht als wissenschaftlich akzeptiert werden, denn das von OESER angemahnte "Auseinanderhalten" habe ich nirgendwo gefunden.

Jedenfalls lassen sich alle Beispiele aus der Biologie, der Verhaltenslehre, den Lerntheorien auf diese Weise so verwenden, daß sie die Ausgangsthese belegen. Die Masse der aufgeführten Beispiele, so überzeugend sie aussehen mag, beweist nur... das vorher Vorausgesetzte: Die Einheit von Evolution und Evolution der Erkenntnisfähigkeit.

Natürlich ist es nicht einfach, im speziellen Fall der EE die Ebenen auseinanderzuhalten. Man verknüpft ja tatsächlich Aussagen aus der Widerspiegelungsebene (daß die Erkenntnisapparate auf die Realität "passen") und aus der Wechselwirkungsebene (auf der die Entwicklungsprozesse auch des Erkenntnisapparats stattfinden).Aus der reinen Biologie ergibt sich auch lange kein innerer Widerspruch. Erst bei der Betrachtung kultureller Prozesse zeigt sich verhängnisvoll die systematische Ausgrenzung anderer als erkennender Wechselbeziehungen in der EE (wie materielle und gesellschaftliche Praxis; Produktion...).

An einer Stelle müßte jedoch auch der Biologe aufmerksam werden.

Ein recht einprägsamer Begriff für die Tatsache, daß die objektive Realität und die Entwicklung der Erkenntnisfähigkeit des Subjekts wechselwirken, ist das pattern matching(pattern: anordnung, Konfiguration; matching: Feststellen und Heausheben von Unterschieden, Begriff nach CAMPBEKK). ).
Dies besagt, daß die genetischen Informationen Informationen über die äußere Umwelt enthalten (Das Auge ist "sonnenhaft", so ausgebildet, daß es im Wellenlängenbereich des von der Sonne ausgestrahlten und auf der Erdoberfläche empfangenen Lichts optimal arbeitet).

Auf der Ebene der materiellen Wechselwirkungen entspricht der Begriff des pattern matching ziemlich gut dem der Ko-Evolution.

Im Wissen um diese Differenzen läßt sich aus der EE jedoch vieles entnehmen, was sehr sinnvoll ist.

2.2. Erkenntnis als Subjekt- Objekt- Wechselwirkung

Konzentrieren wir uns auf die Widerspiegelung, so können wir folgende Abbildung zur Verdeutlichung verwenden:

Widerspiegelung

Nach LORENZ und VOLLMER bestimmt die Interaktion mit dem Milieu das Verhalten und erzeugt den Widerspiegelungsapparat.

Deshalb "paßt" der Widerspiegelungsapparat auf die Realität.

"Unsere...festliegenden Anschauungsformen und Kategorien passen aus ganz demselben Gründen auf die Außenwelt, aus denen der Huf des Pferdes... auf den Steppenboden, die Flosse eines Fisches... ins Wasser paßt" (LORENZ,Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie,1941).

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß die innere Struktur des Subjekts, des Erkenntnisapparats, von außen determiniert ist. (Einfluß (a)).

Dieser Erkenntnisapparat stellt nicht nur einen glatten Spiegel des Abspiegelns des Objekts im Subjekt dar, sondern verzerrt bereits die Wahrnehmung im Auge (Gestaltwahrnehmung s.u.).

Genau diese inneren Strukturen müssen berücksichtigt werden, wenn eine Erkenntnis interpretiert werden soll.

Ausgehend von dieser Eigenständigkeit abstrahieren MATURANA und VARELA (12) fast gänzlich von der äußeren Determiniertheit und stellen fest, daß das Subjekt als autopoietisches System sehr von seiner eigenen Struktur bestimmt ist (strukturdeterminiert). Das Objekt formt deshalb im Subjekt nichts nach seinem Bilde, sondern kann höchstens strukturdeterminierte Reaktionen auslösen ("Perturbationen"). Hier steht also die interne Determination im Vordergrund - sicher, weil sie das direkte Forschungsobjekt der Autoren ist.

Um diese beiden Aspekte zu verbinden, braucht man nur noch einmal zu erinnern, daß diese autopoietische strukturdeterminierte System durchaus über seine Evolution von außen determiniert wurde. Aber nicht nur historisch besteht eine Verbindung vom Objektbereich zum Subjekt, sondern auch während jeder Widerspiegelung.

2.3. Vor-Theoretische Erkenntnis

Da die Widerspiegelung ein wichtiger Aspekt von biotischen Evolutions-prozessen ist (nicht der einzige, siehe S.7), lassen sich vielfältige Zusammenhänge zwischen Widerspiegelung ("Erkennen") und biotischer Evolution nachweisen.

Dies leistet die EE sehr umfangreich.

I.KANT hatte festgestellt, daß wir Ordnungsraster auf die eigentlich ungeordnete Objektwelt projizieren und auf diese Weise Ordnung konstituieren. Die Ordnungsraster/ Denkformen sind uns vor aller Erfahrung (a priori) gegeben.

KANT sieht diese nicht als absolut unveränderbar, sondern durch Vernunftinteressen bestimmt. K.LORENZ betont in einem bewußten Bezug auf KANT (er war zeitweise Inhaber des KANT-Lehrstuhls in Königsberg), daß diese a priori- Denkformen evolutionär entstanden sind. Sie sind deshalb zwar a priori (angeboren; vor aller Erfahrung) für das Individuum, aber a posteriori (nach der Erfahrung) für die Gattung, in deren Evolution sich der Erkenntnisapparat an die (über Mutation und Selektion) erfahrene objektive Realität an"paßt".

Bereits HAECKEL erkannte:

" (Die) Fähigkeit zu Erkenntnissen a priori ist aber ursprünglich entstanden durch Vererbung von Gehirn-Structuren, die... durch Anpassung an synthetische Verknüpfungen von Erfahrungen, von Erkenntnissen a posteriori erworben wurden." (nach 7,19),

und für MARX stand fest: "Die Bildung der 5 Sinne ist die Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte" (MARX MEW Bd.19,S.362f.).

Die Wahrnehmungsorgane/ Erkenntnisapparate "passen" auf die Strukturen der Umgebungsrealität. Diese Passung entstand im Ergebnis von Anpassungsleistungen in der biotischen Evolution.

Sie führt dazu, daß der Erkenntnisapparat kein "idealer Spiegel" zur Aufnahme der Außeninformationen ist, sondern diese Informationen bereits umformt.

Das beginnt bereits bei physiologisch - selektiven Informationsaufnahme im Auge (Anordnung der Sehzellen).

Auch der zur Verarbeitung ankommende Input im Gehirn ist ein Ergebnis der unbewußten Informationsverarbeitung durch das Gehirn (SEITELBERGER in 7,182). Der Input wird in der Hirnrinde modular bearbeitet ("assoziative Funktion").

Während 109 bits/sek. das Gehirn erreichen, werden nur 100 bits/sek. für die bewußte Wahrnehmung ausgewählt (7,192).

Die ursprüngliche Information wird vielfältigen Vermittlungen in einem "Komplex innerer Bedingungen" (11,27) unterworfen. Im Sinnesorgan, in der Reizleitung und im Gehirn wird bereits selektiert und synthetisiert (vgl. auch 14, 156ff.).

Dabei werden verschiedene Umformungen der Information wahrgenommen, die i.a. als Gestaltwahrnehmung diskutiert werden.

Zum Beispiel werden konstante Eigenschaften der Gegenstände (Farbe, Größe, Richtung und Form) unabhängig von den konkreten Wahrnehmungsbedingungen (Lichteinfall, Entfernung...) als konstant wahrgenommen. diese unbewußten Verrechnungsvorgänge werden in der Tradition der EE als ratiomorph bezeichnet.

Die systematischen "Verzerrungen" der Informationen, die das Subjekt erreichen, sind lebensnotwendig. Andererseits muß man sie kennen, wenn man die Wahrnehmungen und Denkleistungen bewußt analysieren will. R.RIEDL warnt deshalb pronounciert vor der Irreführung der menschlichen Erkenntnis durch diese unbewußten Leistungen des Erkenntnisapparats.

Anderseits beruhen alle letztlich über diese unbewußten Prozesse hinausführenden und sie überwindenden bewußten Prozesse auf diesen unbewußten Vorleistungen.

Das beginnt, wie K.LORENZ zeigte bei dem Primat der räumlichen Wahrnehmung gegenüber z.B. motorischen, das den Weg für ein nur scheinbares,"vorgestelltes" Hantieren im Vorstellungs-"Raum" als erster Form des Denkens freimachte. Ebenso beruht das Gedächtnis und die kreative Vorstellungskraft auf diesen Mechanismen.

Vorleistungen für das spätere menschliche Erkenntnisvermögen gibt es also bereits bei den Tieren. Sie haben die "Möglichkeit, Objekte in kognitiven Strukturen und emotional- motivationalen Wertungsstrukturen" zur repräsentieren (ERPENBECK: 15,15).

Dabei können frühere Erfahrungen, die im Gedächtnis gespeichert sind, mit aktuellen verglichen werden (VOLLMER: 16,74). Ebenfalls ist bereits ein elementares Denken als "Hantieren im Vorstellungsraum" (K.LORENZ) möglich.

Das Erkennen im tierischen Bereich ist also bereits eine Relation: A erkennt B als C.

Wodurch erhebt sich das menschliche Erkennen nun auf eine höhere Stufe, die entsprechend der Wesensverschiedenheit verschiedener "Seinstufen" nicht mehr auf niedere Formen reduzierbar ist? Ein Vergleich macht das deutlich:

Seine spezifische Art und Weise der Wechselwirkung mit der Umgebung, der , führt dazu, daß diese Wechselwirkung sich wesentlich von der durch Tiere vermittelten unterscheidet:

a) durch die Zielbewußtheit des Stoffwechsels mit der Natur, der Produktion,

b) durch den gesellschaftlich-bewußten Charakter dieser Praxis.

Der Mensch hat nicht nur das Gedächtnis als einfache Repräsentation der Erfahrungsinhalte zur Verfügung, sondern kann mit der Sprache Objekte benennen und abstraktere Manipulationen ausführen ("doppelte Repräsentation").

Dies ist die Voraussetzung für das Erkennen von Gesetzmäßigkei ten und das Überwinden der systematischen Wahrnehmungsverzerrun gen durch den ratiomorphen Apparat.

2.4. Theoretische Erkenntnis

2.4.1. Zuständigkeitsbereich der EE

Unbestritten ist die evolutionäre Bedingtheit der biotischen Vorleistungen für die menschliche Erkenntnistätigkeit.

Wie weit jedoch reicht die Kompetenz einer biologischen Erkenntnistheorie in die Gefilde der spezifisch menschlichen Form des Erkennes, des theoretischen Erkennens hinein?

Die Aussagen von Vertretern der EE sind hier etwas widersprüchlich. Einerseits bezieht sich VOLLMER auf die unbewußte und unkritische Rekonstruktion der Wahrnehmung, die deshalb stets nur hypothetischen Charakter behalten könne (16). Da man (wer ist "man"?) nur wisse, was für die Arterhaltung wichtig ist, bleibt das "Ding an sich unerkennbar" (POPPER, nach 1.18).

Das menschliche Erkennen wird hier also strikt an die biotischen "Grenzen" exakter Wahrnehmungen gebunden.

Andererseits weiß VOLLMER durchaus zu unterscheiden:

"In der Wahrnehmung erfolgt diese Rekonstruktion unbewußt und unkritisch, in der Erfahrung dagegen bewußt, wenn auch noch unkritisch, in der theor. Erkenntnis dagegen schließlich bewußt und kritisch. Kein Tier hat theoretische Erkenntnis." (VOLLMER in 17,80f.) Damit sollte die vom Tier abgeleitete Erkenntnistheorie nicht so einfach auf den Menschen übertragbar sein.

Tatsächlich begründet VOLLMER (7,45), daß die EE weiteres Wissen z.B. über die Art und Weise, wie Erkenntnis entsteht benötigt, was er mit seiner Projektiven Erkenntnistheorie hinzufügen will.

Er stellt auch ausdrücklich fest, daß die EE nicht die Evolution menschlicher Kenntnisse erklären will, dies sei Aufgabe der Wissenschaftstheorie (7,47). An dieser Stelle ist für ihn auch klar, daß die kulturelle anderen, als nur biotischen Gesetzen unterliegt (7,48).

E.OESER erklärt auch ausdrücklich, daß die Anpassung nicht ausreichend zur Erklärung menschlicher Erkenntnis ist, da wir ja die uns angeborene "Brille" durchaus abnehmen können. Für das menschliche Erkennen ist der Passungscharakter nicht mehr entscheidend, "sondern die Fähigkeit, konstruktiv Modelle der Realität zu entwerfen, die nachträglich mit den Erfahrungstatsachen der Wahrnehmung verglichen werden" (OESER 7,272).

Dadurch ist es dem Menschen möglich, die phylogenetisch erworbenen Grundlagen des Erkenntnisvermögens zu überwinden (7,283).

Gemeint ist damit die einfache Erfahrung, daß uns zwar unsere Wahrnehmung sagt, daß sich die Sonne um die Erde herum dreht - daß wir aber durchaus wissen können, daß sich tatsächlich die Erde um die Sonne bewegt.

" Die optische Täuschung ist für das Auge unaufhebbar, nicht für das Denken... die Täuschung des Denkens ist prinzipiell durch Denken aufhebbar."(LÖW 7,337)

Diese Überwindung des phylogenetisch erworbenen Erkenntnisapparats ist für OESER geradezu das Ziel der Wissenschaft.

Bereits ENGELS nennt in seiner "Dialektik der Natur" mehrere Beispiele für die Überwindung von biotischen Erkenntnisschranken durch den Menschen:

  • auch unsichtbare Strahlung wird durch spezielle Geräte "gese hen" (18,233),
  • "Atom und Molekül etc. kann man nicht mit dem Mikroskop beob achten, sondern nur mit dem Denken." (18,198)
  • Die Theorie kann dabei zeitweise sogar zur Empirie im Wider spruch stehen und recht haben. Während sich aus empirischen daten bei CASSINI noch ergab, daß die Erde elliptisch mit langer Polarachse sei, hatte NEWTON die Abplattung der Erde theoretisch vorausgesagt (18,200).

Wir sind sind in der Lage, zusätzlich zu den angeborenen Maßsystemen andere geometrische Maße anzuwenden und Messungen als Grundlage für wissenschaftliche Aussagen durchzuführen (vgl. V.BORZESZKOWSKI/WAHSNER in DIALEKTIK 1/91 S.183).

Die zusätzlichen Mittel des Menschen bilden nun nicht etwa das Urbild "exakter" ab als eine Spiegelung es könnte, sondern sie geben die Möglichkeit, tiefer in das Wesen der Dinge einzudringen. "Weil die Welt eben nicht genauso ist, wie sie sich unseren Sinnen darbietet, können wir uns ein durch die Mannigfaltigkeit der Objekte hindurchblickendes Bild von der Welt machen" (MOCEK: 19,43).

Daß nicht das Nachvollziehen einer unendlichen Kausalverkettung das Ziel wissenschaftlicher Erkenntnisse ist, sondern eine "Beschränkung" auf wesentliche Zusammenhänge sinnvoll ist, beschreibt S.LEM damit, daß die Natur selbst so vorgeht: "Müßte die Natur Impuls, Spin und Moment jedes einzelnen Elektrons bei der Regelung berücksichtigen, dann hätte sich niemals lebende Strukturen errichtet" (LEM: 20,383).

Unter der Oberfläche der Phänomene wird so die "innere Physiologie" der Vorgänge aufgedeckt (MARX in Theorien über den Mehrwert). Es geht also bei dem wissenschaftlichen Erkennen um das Aufspüren innerer Zusammenhänge, das Vordringen zum Wesen und damit zu den Gesetzmäßigkeiten.

Weil die EE auf die Evolution kognitiver Fähigkeiten beschränkt ist, und ihre Aufgabe nicht die Untersuchung der ihrer theoretischen Überwindung ist, kann sie auch nicht so recht sagen, was Wissenschaft eigentlich ist. Sie bleibt an dieser Stelle bei allgemeinen Aussagen stehen (vgl. LORENZ 1,9). Ebenso verweisen sie bei der Frage nach dem Zustandekommen eines wissenschaftlichen Fortschritts auf vage Analogien zum biotischen Mutations-Selektions-Prozeß.

Wenn sie den Geltungsbereich nicht über ihre Möglichkeiten hinaus ausdehnen, ist das auch kein Manko.

Die folgenden Punkte (2.4.2. bis 3.) diskutieren einige Fragen, denen sich die EE wegen Beschränkung auf die biotischen Grundlagen des Erkennens nicht stellen kann. Um diese Einschränkung deutlich zu machen, und weil die Themen interessant sind, seien sie aber hier diskutiert.

2.4.2. Wissenschaftliches Erkennen

Nur der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle angedeutet, welche weiteren Faktoren, die über das tierische Erkennen hinausweisen, für die wissenschaftliche Erkenntnis wesentlich sind.

a) Selektion im "Netz" des Wissenschaftlers

Da die "Erscheinung stets reicher als das Wesen" ist (LENIN), müssen überflüssige Informationen herausgefiltert werden.

Bewußte Selektionen geschehen im wissenschaftlichen Erkenntisprozeß an verschiedenen Stellen:

  • Bereits die Beobachtung ist ein "zielgerichtetes Wahrnehmen oder Messen bestimmter objektiv-realer Erscheinungen " (dem deshalb eine theoretische Fundierung vorherging) (21,167);
  • Es werden idealisierte Bedingungen geschaffen;
  • Die Objekte werden vereinzelt;
  • Das Experiment variiert die Bedingungen bewußt (21,167,157).
  • Ein Modell nimmt nur die für das jeweils betrachtete Problem relevanten Variablen und Elemente in sich auf.

Es ist klar, daß hier eine rein biologisch argumentierende Erkenntnistheorie nicht mehr viel aussagen kann.

Die mögliche Variation der Auswahlkriterien verweist auf die Möglichkeit einer Betrachtung von mehreren Standpunkten unter verschiedenen Fragestellungen.

Das Hinzunehmen vorher vernachlässigter Kontexte, das Überschauen von Zusammenhängen zwischen Systemen verschiedener Strukturniveaus, die heuristische Funktion von Isomorphien und Ähnlichkeiten führten z.B. G.BATESON (22) zu vielfältigen neuen Hypothesen und Entdeckungen.

An dieser Stelle wird auch klar, warum eine Wissenschaft, die sich nicht mehr bewußt ist, daß sie jeweils nur Teile der objektiven Realität ("Teile des Kreisbogens" G. BATESON) wahrnimmt, nicht mehr der Aufgabe der Wissenschaft, das Wesen der Prozesse und die inneren Zusammenhänge aufzudecken, gerecht werden kann.

Leider wird genau diese Abweichung von der Wissenschaft oft als das Bild der Wissenschaft dargestellt, was zur Suche nach Auswegen im Irrationalismus verführt.

b) Entwurf und Konstruktion

Es reicht nun nicht aus, Objekte zu isolieren, zu idealisieren (also von unwesentlichen Elementen zu befreien), um dann wesentliche Aussagen über sie zu machen.

Schon bei der Idealisierung benutzt man als "Auswahlkriterium" theoretische Zusätze zur rein empirischen "Datensammlung" (vgl. 18, S.222)

Dabei gibt es keinen eindeutigen Weg von den experimentellen Befunden zu den Gesetzesaussagen (RÖSEBERG,23, S.43).

Bereits die sinnliche Wahrnehmung verbindet die Selektion mit der konstruktiven Gestaltbildung.

Dabei ermöglichte es die "unscharfe Modellbildung", die Wirklich- keit intuitiv und ganzheitlich zu erfassen, ohne auf exakte Einzelinformationen "warten" zu müssen(vgl.LEM, 20, S.235f).

Dies war während der vorwiegend biotisch-determinierten Evolution sicher ein Selektionsvorteil, der sich über den Symmetriebruch der Anthropogenese hinaus in Form des bewußten Denkens potenziert entwickelt hat.

Eine Form der "Konstruktion" ist z.B. die Intuition, die Kreation

von neuen Erkenntnissen über eine "Heureka-"erkenntnis beim plötzlichen "Zusammenschnackeln" von zwei vorher unabhängigen Sachen ("Fulguration", LORENZ, 8, S.26).

Der Weg der Erkenntnis ist somit keine einfache Aufeinanderfolge von Versuch und Irrtum (Herausselektieren der "richtigen" aus allen möglichen Variablenkombinationen), sondern vollzieht sich über Vermutungen und Hypothesen.

Einstein schrieb über Kepler: "Es scheint, daß die menschliche Vernunft die Formen erst selbstständig konstruieren muß, ehe wir sie in den Dingen nachweisen. Aus Keplers wunderbarem Lebenswerk erkennen wir besonders schön, daß aus bloßer Empirie allein die Erkenntnis nicht erblühen kann, sondern nur aus dem Vergleich von Erdachtem mit dem Beobachteten" (A.EINSTEIN,Mein Weltbild S.197, vgl. R.WAHSNER in DZfPh 5/81 S. 531ff.).

Während E.MACH als wissenschaftliche Theorie nur die Anpassung der Gedanken aneinander verstehen wollte, erkannte bereits BOLTZ- MANN, daß die Theorie relativ eigenständig sein muß. Ohne sie bekäme man keinerlei Zugang zu modernen Theorien wie Quantenoder Relativitätstheorie (vgl. RÖSEBERG, 27, S.28ff.).

Es ist nötig, Zusatzannahmen zu machen, die direkt nicht zu beweisen sind (vgl. RÖSEBERG, 23, S.69).

Ohne die theoretische Annahme der Quantenstruktur der Energie durch PLANCK in einem "Akt der Verzweiflung" (so beschreibt er es in einem Brief an WOODS) wäre die Frage, wieso Atome stabil bleiben, obwohl doch die Elektronen auf ihren (kreisförmig-beschleunigten) Bahnen laufend Energie abgeben müßten, ewig unbeantwortet geblieben (und ohne theoretische Vorüberlegungen gar nicht erst gestellt worden).


c) Komplementarität

Aufgrund der objektiven Unerschöpflichkeit der Objekte und der Offenheit der Erkenntnisziele des Subjekts kommt es zu einer Vielfalt möglicher Abbilder eines Objekts.

Mit dem Anspruch einer "völlig neuen Erkenntnis" macht seit einigen Jahre die sog. Bootstrap-Theorie Furore. Der Physiker CHEW entwickelte aus der Tatsache, daß stark wechselwirkende Quanten-Teilchen nicht mehr als isolierte Teilchen auftreten (S-Matrix-Theorie), sondern sich stets ineinander umwandeln, sie nur in Beziehungen existieren, eine "neue" Weltanschauung: "Das materielle Universum ist ein dynamisches Gewebe zusammenhängender Geschehnisse." (CHEW nach CAPRA, 24,S.54). Die Materialität verschwindet bei CAPRA dann auch noch: "Die beobachteten Strukturen der Materie wären somit Spiegelungen der Struktur unseres Bewußtseins." (CAPRA, 25, S.99).

Der reale Kern dieser Theorie ist, daß es nicht möglich ist, fundamentale Bausteine der Materie oder fundamentale Gesetze zu finden, sondern stets ein Beziehungsgeflecht vorliegt.

Diese richtige Grundansicht wird allerdings verabsolutiert, wenn nun im Gegenzug die wechselwirkenden Quantenobjekte zum Funda- ment der Welt-Sicht gemacht werden. Die Realität wird hinter rücks auf diese Beziehungsgeflechte (im Elementarteilchenbe- reich) reduziert und es werden keine unterschiedlichen Struk- turniveaus anerkannt.

Bereits HEGEL stellte fest, daß die KANTschen Antinomien nicht vom Unvermögen des Verstands herrühren, sondern die Welt selbst dialektisch widersprüchlich ist.

Jedes Objekt stellt eine dialektische Einheit einander entgegen- gesetzter Seiten, Tendenzen und Prozesse dar, die einander ausschließen, aber miteinander zusammenhängen. "Sie bedingen sich gegenseitig, bilden eine Einheit, existieren nicht losgelöst voneinander und befinden sich gleichzeitig in Widerstreit." (GROPP nach 15,S.50).

Solche Widersprüchlichkeiten liegt vor

  • in Objekten auf einem Strukturniveau, was sich vielleicht (!)auf die Wechselwirkung mit noch tieferen und/oder höheren Niveaus zurückführen läßt,
  • bei Wechselwirkungen zwischen Strukturniveaus,
  • der vielfältigen Lebenspraxis und damit verschiedenen Ausgangs punkten des Erkenntnissubjekts.

Perspektiven

Die Vielfalt der Abbilder sollen im Falle "sich (durch unterschiedliche Bedingungen) gegenseitig ausschließender, aber richtiger" (BOHR) Abbilder komplementär genannt werden.

Eine spezielle Art der Komplementarität beschreibt z.B. E.P FISCHER (14) in Form der "schichtübergreifenden Komplementarität". Gemeint ist die Sicht auf zusammengesetzte Körper aus unterschiedlichen Richtungen: " Entweder man orientiert sich an den Teilen oder man beginnt mit dem Blick auf das Ganze" (14,22).

Das Verabsolutieren jeweils einer Sicht führt jedoch zum Reduktionismus- es ist notwendig, alle Bilder aufeinander bezogen zu verwenden (eine einfache Reduktion aufeinander ist nicht möglich, wenn sich - wie für die Komplementarität vorausgesetzt - die jeweiligen Bedingungen gegenseitig ausschließen).

K.LORENZ setzt sich an mehreren Stellen vehement gegen die "Nichts- Alserei" (ein Ding sei "nichts als" anstelle eines "sowohl als auch") ein, bei der eine solche Reduktion versucht wird.

"Erst die Gesamtheit aller Seiten eines Gegenstands realisiert die Wahrheit." (LENIN, LW Bd.38 S.186).

Nur auf dem Wege einer so dialektisch verstandenen Wissenschaft wird es möglich sein, daß "die Menschen (sich) wieder als Eins mit der Natur nicht nur fühlen, sondern auch wissen..." (ENGELS, MEW Bd.20, S.453).

Diese Einheit mit der Natur scheint auf dem Wege der Wissenschaft verloren gegangen zu sein. Die Ursache nur in geistigen Prozessen zu sehen, führt dazu, der Wissenschaft als geistigem Prozeß dafür die Schuld zu geben. Dem Irrationalismus sind dann Tür und Tor geöffnet.

In Wirklichkeit wird die Gesamtheit wissenschaftlichen Erkennens aus anderen Gründen im praktischen Forschungsprozeß reduziert.

Es ist nicht das Unvermögen oder der fehlgelenkte Wille der Forscher, sondern ihre Einbindung in den Kapitalverwertungsprozeß, die die Wissenschaft in eine Sackgasse treibt.

Werden die Ursachen jedoch nur im geistigen Bereich vermutet, geht auch der Kampf gegen diese Einseitigkeit ins Leere und wird wiederum vom Kapital verwertet, diesmal ideologisch gegen einen Anspruch der wissenschaftlichen Erklärung der Welt.

Und doch ist es notwendig, darüber hinaus zu gehen. Nicht der technizistisch-rationalistische Weg ist der Richtige- aber auch nicht die Flucht ins Irrational-Mystische. Die Dinge sind komplizierter und im folgenden Gliederungspunkt auch nur leicht angetippt und nicht genügend durchgearbeitet. Immer wieder jedoch werden wir uns auf die Gratwanderung zwischen übertriebener und einseitiger Rationalität und der in die andere Richtung übertriebenen Irrationalität begeben.

2.5. Aneignung der Welt

Die streng wissenschaftliche Untersuchung ist immer nur eine der möglichen Formen, die Umgebung widerzuspiegeln, sich zu ihr ins Verhältnis zu setzen.

Auch der strenge, "engere" Erkenntnisprozeß, der auf eine "Entsubjektivierung" zielt, nimmt Vor-Wertungen vor (z.B. ist die Wahl der Erkenntnismethoden vom Forschungsziel abhängig) und ermöglicht die nachfolgende Ver-Wertungen. Erkenntnis in diesem Sinne ist aber eher auf eine Objekt- Abbild-Relation beschränkt.

Erst der weitere Begriff umfaßt nach ERPENBECK (15,167f.) Wertungen und Prozesse der Erkenntnis als Gesamtheit aller individuell-psychischen und historisch- gesellschaftlichen Bewußtseinsprozesse. Hier liegt dann eine Objekt- Subjekt- Abbild- Relation vor (15,139).

D.h: "Das Abbild vertritt das Objekt entsprechend den Interessen und Aktivitäten des Subjekts".

Diese Interessen sind wesentlich beeinflußt durch den materiellen Lebensprozeß: "Bei mir ist ... das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle" (MEW Bd. 23 S.27).)

Auf diese Weise gelangen wir zu einer zusätzlichen Aneignungsform der Wirklichkeit, die neben der theoretisch-geistigen autritt: die praktisch- geistige. MARX erkennt weiterhin die ästhetisch- geistige und die religiös-geistige Aneignung der Wirklichkeit an (entspr. neuerer Transkr. MEW Bd.13 S.633).

All diese Aneignungsformen hängen miteinander zusammen, ihre Wechselbeziehungen sind nicht trivial.

C.F.v.WEIZSÄCKER (26, 449ff.) hat eine interessante Erklärung für die Differenz westlicher und östlicher Denkweisen und ihr jetziges Bestreben, einander näher zu kommen. Die für ein bewußtes Denken notwendige Trennung von Wahrnehmung und Bewegung, also das Abheben einer theoretischen, verstandesgemäßen Betrachtung der Wirklichkeit, die zu Wissen führt von der Praxis, die auf freiem Willen beruht und Macht ermöglicht, führt zu der Situation, daß das Handeln zwar zielbewußt erfolgt, aber die Zwecke selbst recht wenig Vernunftentscheidungen unterliegen, eher spontan gebildet werden. Abgesehen davon, daß die Zwecke in der Praxis durchaus durch gesellschaftliche Verhältnisse recht festgelegt und nicht beliebig "spontan" entwickelbar sind, zeigt sich eine interessante Übereinstimmung mit HORKHEIMER. Dieser kritisiert, daß die vorherrschende "instrumentelle Vernunft" zwar in der Lage ist, die Auswahl von Mitteln zur Erfüllung von Zielen durchaus rational zu vollziehen (eine effektive Produktion zu organisieren), daß in der Gegenwart die Ziele des Handelns eher irrational und nicht durch Vernunft kontrolliert sind (Produktionsziel selbst irrational).

Aus diesem Widerspruch leitet WEIZSÄCKER die Notwendigkeit ab, die bisherigen Formen des Wissens durch eine gezielte Wahrnehmung des Ganzen zu ergänzen und die bisherige machtorientierte Praxis durch die Sittlichkeit. Daß dies noch nicht realisiert ist, stellt einen Mangel an Kultur dar. Dieser führt zu den bekannten Bestrebungen, diesen Mangel über einen Kult an östlichen Kulturen ausgleichen zu wollen.

Damit erfaßt WEIZSÄCKER meiner Meinung nach einen erkenntnistheoretischen Hintergrund der gegenwärtigen Esoterik- und New-Age-Welle.

Tatsächlich liegt der Gedanke nicht weit, auf eine Wissenschaft, die in der Gegenwart ihren instrumentellen Charakter als bloßes Machtmittel nicht leugnen kann, ganz zu verzichten. Wenn auch die Gurus dieser Ansichten selbst durchaus ein Bemühen zeigen, ihre Ansichten sogar mit Hilfe "neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse" zu untermauern (CAPRA ist Physiker), so gehen sie selbst innerhalb ihrer Fachwissenschaft sehr unwissenschaftlich vor (das kann man anhand der verwendeten Quantenphysik bei CAPRA schön zeigen) und haben für alle "konservativen" Fachkollegen nur Hohn und Verachtung übrig.

Der Verzicht auf technokratische Steuerungsmethoden und die realsozialistische Versionen der In-Dienst-stellung der Wissenschaft für eine Ver-Planung menschlichen Lebens führt auch bei alternativen Politikansätzen zu einer Verschiebung zuungunsten von wissenschaftlicher Arbeit.

Auch WEIZSÄCKER sucht weiter nach einer "Begründung der Werte im Lichte eines Bewußtseins" und findet nicht zurück zu einem dialektischen Wissenschaftsverständnis.

Dieses wird aber auch erst möglich sein, wenn sich die Wissenschaft selbst an den Stellen weiterentwickelt, an denen tatsächlich neue Erkenntnisse aufbrechen.

LENIN analysierte die "Krise der Physik" angesichts neuer Erkenntnisse zur Atomtheorie und Relativitätstheorie. Er kam zu dem Schluß, daß diese neuen Erkenntnisse die Wissenschaft "zur Dialektik zwingen". Heute stellt das Vordringen neuer Paradigmen (Denkschemata, Rahmen für ganze Wissenschaftsgebiete, wie das Selbstorganisationskonzept, die Synergetik...) die gleichen Anforderungen.

Leider ist die gegenwärtige Entwicklung eher davon bestimmt, daß die Vertreter der neuen Gedanken sich mit Protest abwenden von der traditionellen Wissenschaft und die "Verteidiger" dieser Wissenschaft es im Kampf gegen die "Abtrünnigen" zu oft versäumen, das wirklich Neue zur Kenntnis zu nehmen.

Welche Akzente der "Meditationswelle" sind nun für uns interessant ?

a) erkenntnistheoretisch:

1. Es ist tatsächlich notwendig, die Dinge und Prozesse in ihren Zusammenhängen zu betrachten, sie als Totalität zu erkennen. Es geht dabei um die genaue Untersuchung von Wechselwirkungen zwischen Strukturniveaus auch weit entfernter Stufen (Ko-Evolution Mikro-Makrowelt). Die Wissenschaft ist inzwischen selbst an den Stellen, wo diese Wechselwirkungen wesentlich zum Verständnis der untersuchten Prozesse werden (Quantentheorie und Kosmologie; Mensch als Individuum und im Spannungsfeld der globalen Probleme ...).

Eine Unterscheidung zu spekulativ-mystischen Weltbildern gibt die Forderung von ENGELS an materialistische Forschungen, nur die tatsächlichen Zusammenhänge zu akzeptieren und keine zu erdenken und zu erdichten. Wie dies gemacht wird, ist auffallend bei der Erfindung des Geistes aus der "Dynamik der Selbstorganisation" bei E.JANTSCH (29).

Typisch ist auch, daß bei den neuen mythischen Weltbildern die objektiven Widersprüche ausgeschaltet werden und eine Harmonisierung ein "Ineinanderschwingen der kosmischen Harmonien", in die die Menschen sich einklinken müßten, dekretiert wird .

 
  Da die Triebkräfte als Quelle der Bewegung ausgeschaltet werden, braucht man im nachhinein dann tatsächlich "Geister", die die "unerklärliche" Bewegung dann doch noch begründen.
 

2. Um zu neuen Erkenntnissen zu kommen, ist es tatsächlich notwendig, aus alten Denklogiken aussteigen zu können. Bekannt sind Entdeckungen, die nicht beim logischen Nachdenken entstanden, sondern erst im Schlaf/Traum der Forscher die logischen Denkzirkel durchbrechen konnten (Entdeckung des Benzolrings, des Systems der Elemente). Dieses Ausbrechen wird einerseits möglich duch einen Wechsel der Forschungsmethode, der Praxis- aber andererseits können auch "Tricks" zum Ausschalten dieser logischen Denkzirkel hilfreich sein. Man muß inzwischen nicht auf das Glück der Träume warten, sondern bestimmte Meditationstechniken zielen mit ihrer "Konzentration auf das "Nichts"" genau darauf, diese Logiken zum Schweigen zu bringen, um Platz für neue Strukturen zu machen. WEIZSÄCKER spricht von "affektiver Gestaltwahrnehmung", die über Meditation geschult werden könne (26,456).

b) psychisch

Ebenso weiß jeder Ausdauerläufer von den Wechselbeziehungen seines Körpers zur Psyche und auf diese Weise können auch bestimmte Körpertechniken das aus dem Körper herauslocken, "was nicht im Neocortex, sondern im Körper ist".

Die unterschiedliche Wirkungsweise der beiden Gehirnhälften bringt es ebenfalls mit sich, daß ein bewußter oder über Erfahrung geleiteter Umgang damit mit die Denk- und Verhaltensweisen beeinflussen kann.

c) praktisch-politisch

Wenn gefragt wird, was Gemeinschaften und Gesellschaften "zusammenhält", ist das neben der gemeinsamen Arbeit auch kulturelle Gemeinsamkeit.

Gegenwärtig können sich alternative Gemeinschaften innerhalb einer von der Kapital-Logik durchtränkten Welt nur sehr beschränkt als alternative Arbeitswelten behaupten. Deshalb ist es eine Erfahrung, daß diejenigen alternativen Gemeinschaften derzeit am stabilsten sind, die einen gemeinsamen kulturellen Unter- und Hintergrund haben. Dieser hat in den meisten Fällen spirituellen Charakter (Hier sehe ich von den Sekten mit kommerziellem oder rein machtpolitischen Hintergrund, die es ebenfalls gibt, einmal ab.).

Eine zukünftige humane und ökologisch zumindest verträgliche Lebensweise erfordert einen anderen Umgang mit den Bedürfnissen. Die derzeit zur Kompensation unbefriedigter menschlicher Bedürfnisse (z.B. nach wirklichem Kontakt, nach menschlicher Anerkennung in einer Gemeinschaft) eingesetzten materiellen Güter können dann wegfallen. Eine Entwicklung erfolgt nicht mehr auf der Basis von materiellem Wachstum (obwohl die materielle Reproduktion gewährleistet sein muß).

Damit dies keine asketisch-bedürfnisunterdrückende Diktatur wird, müssen kulturell-ideelle Güter sich entwickeln und vermehren können. Aus heutiger Sicht scheint es so, als sei dieser Wandel vorwiegend nur mit inner-menschlicher Veränderung erreichbar. Meiner Meinung nach wird sich hier jedoch das Wechselverhältnis von Lebensumständen und Persönlichkeitsentwicklung auch ohne spirituelle Inspiration positiv auswirken.

3. DER MENSCH

Die Bewußtheit der Widerspiegelung beim menschlichen Erkenntnisprozeß stellt eine neue Qualität der Widerspiegelungsformen dar.Sie bedeutet Selbst-Reflexion, ist darauf aber nicht beschränkt."Wie kann man sich selbst kennenlernen? Durch Betrachtung niemals, wohl aber durch Handeln." (Goethe)

Eine neue Art des zielgerichteten Handelns wurde für den Men- schen möglich, als er es im Verlaufe des Entstehens der Arbeit lernte, die Ziele seines Handelns bewußt vorherzuplanen.

Im Wechselspiel des Denkens mit dem tätigen Handeln entwickelten sich alle Bereiche des menschlichen Lebens.

 
   Während K.LORENZ i.a. die Gehirnentwicklung beim Menschen betont, kommt er an einer Stelle nicht umhin, die Rolle der Werkzeughandhabung dabei zu erwähnen. Das ist wie der Streit um Henne und Ei. Rein biotisch, ohne gegenständliche Praxis in der Arbeit hätte sich allerdings auch kein Gehirn entwickelt.
 

Durch diese Bewußtheit und die damit verbundene spezifisch menschliche Form des bewußt gestalteten und entwickelten Stoffwechsels mit der Natur (der Arbeit) entsteht innerhalb der Evolution des Lebendigen, eine "Fulguration", die zwar alte (biologische) Gesetze nicht verletzt, aber völlig neue ins Spiel bringt (gesellschaftlich-kulturelle), die ab jetzt die Evolution des Menschen wesentlich bestimmen.

Aus biologischer Sicht unterscheidet sich der Mensch vom Tier durch:

  • eine verkürzte Embryonalentwicklung,
  • Mängel (an biologisch üblichen Waffen, die der Mensch durch "List" und Denken "kompensiert") und
  • Instinktreduktion.

Eine andere Sicht betont die neue Qualität der neuen Subjektform:

  • das Hinzutreten menschgeschaffener, werkzeuggeprägter Dinge und
  • Eigenschaften, durch vergegenständlichte Ergebnisse der Praxis,
  • neue Formen menschlicher Kooperationsbeziehungen,
  • qualitativ neuartige Kommunikationsbeziehungen,
  • Werkzeugherstellung mit anderen Werkzeugen,
  • das Auftreten neuartiger Entscheidungssituationen,
  • das Vorhandensein gesellschaftlicher Intentionen und
  • die Formierung gesellschaftlicher Subjekte (ERPENBECK 15, S.161f.).

Nun ist es aber tatsächlich nicht so, daß alles Tun und Lassen der Menschen von der sozialen Umgebung nach der Geburt bestimmt wäre. Den reinen Behavioristen, die dies annehmen, widerspricht K.LORENZ deshalb mit Recht und verweist auf biotisch bedingte angeborene Strukturen, auf denen bereits das Lernen und weitere Verhaltensformen beruhen. Z.B. "erwartet" der Säugling von seiner biotischen Konstitution her, getragen zu werden, statt in einen rosabeschleiften Plastekasten gelegt und alleingelassen zu werden (vgl. W.SCHIEFENHÖVEL in 3,139ff.). Das Eingehen auf die Bedürfnisse des Säuglings hat nach diesen Erkenntnissen nichts mit "Verwöhnung" zu tun, sondern ist wichtig, damit das Kind Selbstvertrauen und Weltvertrauen gewinnt. Erst von dieser Basis aus kann es dann schnell selbstständig werden und sich von selbst von der betreuenden Mutter trennen. Herrschsüchtig werden eher ungebundene, einsame Kinder.

Nun verlockt aber diese biotische Bedingtheit wieder dazu, sie zu verabsolutieren. Dem begegnet z.B. A.GEHLEN (in 26, S.330). Zwar ist der Mensch aus biologischer Sicht davon gekennzeichnet, daß es ihm an Spezialisierungen mangelt (daher die Bezeichnung "Mängelwesen"). Gerade diese Unspezialisiertheit ist es nach LORENZ auch, die eine Weiterentwicklung ermöglichte. GEHLEN lehnt es auch ab, im Menschen vorwiegend ein Geist-Wesen zu sehen, also das Besondere des Menschen im Geistigen aufgehen zu lassen (Denken, Bewußtsein). Er meint, daß den Menschen seine Handlungsfähigkeit auszeichnet- der Mensch ist für ihn ein Handlungswesen. Erst diese Handlungsfähigkeit macht ihn zu einem weltoffenen Wesen, "das sich selbst noch Aufgabe ist" (M.SCHELER).

Damit schließt sich der Kreis zu marxistischen Ansatz, der im Menschen die bio-psycho-soziale Einheit untersucht. Methodisch darf dabei keine Reduktion auf eine der beteiligten Ebenen zugelassen werden. Weder auf die soziale (Behavioristen), noch auf die biotische (Biologisten/ Rassisten...) oder die psychische. Weder das Individuum allein, noch gesellschaftliche Strukturen für sich genommen sind die einzige Grundlage zur Erklärung menschlichen Verhaltens.

4. DIE GESELLSCHAFT

Damit wird klar, daß jede Gesellschaftstheorie von vielseitigen Faktoren ausgehen muß.

Die Reduktion auf "einfache, naheliegende" Erklärungen mag zwar das Wissensbedürfnis eines Einzelnen stillen, aber sie ist nicht ausreichend. Dabei hat natürlich jeder das Recht, aus einzelnen Bereichen spezielle Aussagen und neue Erkenntnisse einzubringen und sich methodisch darauf zu konzentrieren. Gefährlich wird es erst, wenn er weiter gar nichts mehr anerkennt als die Kenntnisse seines Bereiches (die von LORENZ abgelehnte "Nichts-Alserei").

Weiß man, daß K.LORENZ den Reduktionismus mehrmals ausrücklich ablehnt, kann man seine Ausführungen zur Kulturpathologie eigentlich recht gelassen lesen. Er beschreibt, daß er als Arzt nach politischer Abstinenz eines Tages stark berührt war von der Erkenntnis, daß Kulturen ebenso krank erscheinen wie biotische Organismen. Sein Verantwortungsgefühl legt ihm nahe, sein Wissen auch für gesellschaftliche Fragen einzusetzen. Einen Irrtum dabei beschreibt er später: "Ich habe sogar gehofft, daß der Nationalsozialismus etwas Gutes bringen wird... Daß die Leute "Mord" meinten, wenn sie "Ausmerzen" oder wenn sie "Selektion" sagten, das habe ich damals wirklich nicht geglaubt" (2,96f.).

Und doch: seine Ausführungen angesichts der aktuellen Probleme der Menschheit, lassen bezweifeln, daß er daraus etwas gelernt hat.

Die erste "Todsünde" der Menschheit ist bei ihm die Überbevölkerung (8,107). Die schönste Sache der Welt, das Kinderbekommen, wird als Verbrechen an der Überlebenschance für die schon Lebenden gebrandmarkt. Und die logische Folge ist wieder Ausmerzung = Mord der "Überschusses". Diese ist nicht zu umgehen, wenn man sich einmal auf diese Logik eingelassen hat. Ob das heutzutage die Natur selber über AIDS, Hungersnöte und Naturkatastrophen macht, oder man um sein eigenes Lebensgebiet Mauern gegen Flüchtlinge errichtet - das akzeptierte Ergebnis ist dasselbe: Der Tod vieler Menschen, damit man selber seine eigene Lebensweise, die bestehende Gesellschaftsordnung nicht in Frage zu stellen braucht.

Ich will nicht leugnen, daß LORENZ selber vielleicht das Beste will. Aber ich kann es nicht akzeptieren, wenn ein Wissenschaftler bereits vorhandenes Wissen beiseite legt, und bei einseitigen Weltbildern stehenbleibt. Es ist bereits genügend Wissen vorhanden über die Ursachen des Massensterbens auf der Welt und die Bevölkerungsentwicklung, die eindeutig auf die vorherrschende Gesellschaftsordnung als Ursache der Probleme hinweist. Und nur in diesem Zusammenhang kann man erkennen, daß viele Folgeprobleme dieser Verhältnisse, z.B. die Zerstörung lokaler Selbstversorgungsstrukturen in den überausgebeuteten (nicht "unterentwickelten") Ländern die Ursache für beklagte Entwicklungen (starker Bevölkerungszuwachs) sind.

Erst dann kann man auch humanistisch vertretbare Lösungen und Auswege suchen- nämlich die Veränderung der Gesellschaftsstrukturen. Hier haben wir ein Beispiel der auch von LORENZ zugrundegelegten Spezifik jeder "Seinsschicht" . Gesellschaftliche Probleme können nur gesellschaftlich gelöst werden, nicht biologisch.

Es ist eigentlich schizophren, zu sehen, wie akribisch genau K.LORENZ seine biologischen Beobachtungen dokumentiert und alle seine biologischen Erkenntnisse versucht, sauber abzuleiten.

Wenn man dagegen seine Ausflüge in die "Kulturpathologie" betrachtet, läßt er genau diese Genauigkeit und Ernsthaftigkeit vermissen und wird geradezu leichtsinnig oberflächlich.

Kann man diesen Widerspruch als einfachen erkenntnis-theoretischen Irrtum werten? Man könnte es, wenn LORENZ und seine Anhänger sich gegen den politischen Mißbrauch ihrer Theorien durch die neuen Rechten wenigstens eindeutig verwahren würden. Gegenüber dem dialektischem Materialismus (den sie überdies noch falsch interpretieren) tun sie dies mehrmals. Es ist also nicht ideologische Abstinenz, die sie das gegenüber den Rechten nicht tun läßt.

Auch in späteren Werken waren es oft die Verlage (und N.BISCHOFF), die zu stark biologistische Argumente aus den Manuskripten von LORENZ strichen, weil sie sie sonst nicht hätten veröffentlichen können. Es kann also auch kein unbewußtes Mißverständnis dahinterstecken. Und an dieser Stelle fühle ich mich aufgrund der Kontinuität der Rechten viel zu unwohl, als daß ich das völlig unbeachtet ließe.

5. MEIN ANLIEGEN

Daß es nicht bloß eine politische "Keule" ist, die ich gegen ihn haue, wird hoffentlich in den vorangehenden Seiten deutlich. Es ist auch möglich, im Innern des ganzen Konzepts der EE Grenzen aufzuzeigen. Und es zeigt sich, warum es die Überschreitung dieser Grenzen ist, die entgegen eigener weltanschaulicher Grundlagen ("Seinsschichten") zu sehr problematischen politischen Ansichten führen.

Den politischen Streit überlasse ich anderen. Aber was ich innerhalb der Wissenschaft aufzeigen kann, möchte ich doch tun. Denn an diesen Konfliktstellen sind auch die Punkte, wo sich Wissenschaft weiterbewegt. Das zeigt sich in den 8 Seiten, die sich eigentlich gar nicht mit LORENZ (S.14-22) beschäftigen, aber auch durch ihn angeregt, zu einem Weiterdenken veranlaßten.

Es ist die Überschreitung der Grenzen der EE, die man innerhalb des eigenen Konzepts definieren könnte, die zu den von mir angesprochenen Problemen führt. Dies berechtigt nicht, die gesamte Theorie in Bausch und Bogen zu verwerfen. Das wurde auch früher nicht immer gemacht, sondern noch zu DDR-Zeiten schrieb R.MOCEK (10,246) zur EE:

"Sie stellt einen wichtigen Baustein der wissenschaftlichen Baustein unserer Zeit dar -
nur sollte man den Baustein nicht für das Gebäude halten"



Literatur:

(1) Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels: Lernen und Erkennen in der Tierwelt, 1973
(2) Konrad Lorenz, F.Kreuzer: Leben ist Lernen 1981(3) Der Kreis
um Konrad Lorenz, 1988
(4) Konrad Lorenz: Das Wirkungsgefüge der Natur und das
Schicksal des Menschen, 1978
(5) Konrad Lorenz: Der Abbau des Menschlichen 1983
(6) R.Riedl: Biologie der Erkenntnis 1988
(7) K.Lorenz, F.M.Wuketits: Die Evolution des Denkens 1983
(8) K.Lorenz: Die acht Todsünden der Menschheit
(9) Hörz/ Wessel: Philosophische Erkenntnistheorie 1983
(10) Natürliche Evolution von Lernstrategien
Kühlungsborn 1989
(11) Franz/ Jankow: Information contra Materie? 1983
(12) Maturana/ Varela: Der Baum der Erkenntnis 1984
(13) R. Havemann: Dialektik ohne Dogma
(14) E.P. Fischer: Die zwei Gesichter der Wahrheit
(15) J.Erpenbeck: Das Ganze denken
(16) G. Vollmer: Was können wir wissen? Bd. II
(17) DIALEKTIK Band 8
(18) F.Engels: Dialektik der Natur
(19) Mocek: Gedanken über die Wissenschaft
(20) S. Lemm: Summa Technologiae
(21) Lehrbuch: Philosophie und Naturwissenschaften
(22) G. Bateson: Ökologie des Geistes
(23) U. Röseberg: Determinismus und Physik
(24) F. Capra: Das neue Denken
(25) F. Capra: Wendezeit
(26) Lust an der Erkenntnis, Philosophie des 20. Jahrhunderts
(27) U.Röseberg: Quantenmechanik und Philosophie
(28) Horkheimer: Kritik der instrumentellen Vernunft
(29) E. Jantsch: Selbstorganisation im Universum



Für Dr. Dorothea Schlemm : 20.11.-23.11.92 (HTML 3.8.1996)
 

siehe auch






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