Was ist Philosophie?

Umfassender Bereich:


Man macht der Philosophie den Vorwurf, sie sei nicht imstande,
einen Hund hinter dem Ofen hervorzulocken; das ist zwar vollkommen richtig,
aber das ist auch nicht ihre Aufgabe. (Hegel)

Ich sitze über Büchern, ich lebe meinen Alltag, ich treffe mich mit Freunden... manchmal sage ich dabei "Jetzt mache ich Philosophie". Was ist das Besondere an diesen Gelegenheiten, wo ich nicht nur ganz allgemein oder zu anderen Themen lese, lebe und rede, sondern eben "philosophiere"?

Solange "Philosophie" als Universitätslehrfach angesehen wird, können meine Alltagsmitmenschen damit nichts anfangen und wollen auch nicht allzuviel damit zu tun haben. Wenn wir dagegen über unsere Leben reden, kommen wir sehr schnell ins "Philosophieren".

Was ist also Philosophie?

Einerseits wird damit ein inhaltlicher Bezug gekennzeichnet. Das Philosophieren benutzt andererseits einige typische Methoden.

Solange wir so unter 20 Jahre alt sind, fragen wir uns, wohin wir unser Leben lenken sollen und ob wir überhaupt etwas lenken sollten. Im alltäglichen Leben vergeht uns das Philosophieren dann oft. Zwischendurch erziehen wir unsre Kinder - und machen uns Gedanken über deren Leben. Sie lenken wir auf jeden Fall in irgendeiner Weise. Auch wenn wirs nicht wollen, erleben sie unsere bewußte oder unbewußte "Lebensphilosophie" und werden sich dazu - ablehnend oder sie übernehmend - verhalten. Über uns selbst nachzudenken zwingt uns spätestens die Einsicht in die Endlichkeit unseres Lebens in der "midlife crisis" wieder. Wir bewerten unser gelebtes Leben und denken über den Rest unsrer Tage nach.

Wenn wir dieses "Nachdenken" methodisch gezielt durchführen, kann das schon Philosophie sein. Die gewählten Methoden sind oft unterschiedlich: Wir analysieren, assoziieren, synthetisieren, abstrahieren, konkretisieren usw.

Obwohl ich selbst in den von mir moderierten "Philosophischen Gesprächen" keinerlei Vorwissen oder wissenschaftliche Exaktheit voraussetze, sondern mich eher auf die oben erwähnten allgemeinen Lebensphilosophien und deren geistiger Verarbeitung stütze, möchte ich im folgenden den Philosophiebegriff doch stärker einschränken.

Denn auch diese allgemeinen Gespräche sollen nicht nur ein folgenloses Gerede bleiben, sondern in sich eine Tendenz hin zu stärkerer Stringenz und gedanklicher Vertiefung bzw. geistiger Höhe enthalten. Das ist aber nur als Lernprozeß möglich, bei dem jeder Teilnehmende nur so weit mitgeht, wie er es selbst möchte. Ich habe keine akademischen Scheine zu vergeben, aber ich hoffe, daß die Gespräche manchmal sogar stärker in das gelebte Leben eindringen, als manches Theorieseminar.

Die Philosophie im engeren Sinne zeichnen bestimmte Merkmale aus.

Dies sind unter anderem bezüglich des Inhalts:

  • Sie macht Aussagen über das Menschsein und damit auch über die Welt, in der die Menschen leben. Ihre "Aussageform" (also die Verbalität) unterscheidet sie von anderen Beziehungsformen zwischen Mensch und Welt, wie der körperlichen Sinnlichkeit (bis hin zu Yoga oder ä.) oder der Arbeit.
  • Sie untersucht die Beziehungen zwischen Mensch und Welt, insbesondere auch die verschiedenen sog. "Aneignungsformen" der Welt durch den Menschen. Eine dieser Formen ist die Erkenntnis. Philosophie hinterfragt dabei besonders die Bedingungen der geistigen Erkenntnis.
  • Das philosophische Denken ist ein Heraustreten des denkenden Menschen aus der unmittelbaren Einheit mit der natürlichen Welt und ermöglicht eine neue Einheit "als Resultat der Arbeit und Bildung des Geistes" (Hegel, Enzyklopädie).

Grundfragen jeder Philosophie sind in irgendeiner Form die nach dem Verhältnis von Einem und dem Vielen, von Einheit der Mannigfaltigkeiten als Ganzheiten. Das Zusammengehören dieser Bestimmungen bringt Bewegung in das Denken; wie es sie auch in der Realität mit sich bringt. Dadurch gerät nicht das Sein als statisch Seiendes in den Mittelpunkt des Philosophierens, sondern das sich Bewegende im Raum von vorhandenen oder gar neu erzeugten Möglichkeiten. Philosophie kann die Realität nicht nur abbilden, sondern im Namen der in ihr steckenden Möglichkeiten auch kritisieren!

Bezüglich der Form ist die Philosophie gekennzeichnet durch:

  • Wissenschaftlichkeit: sie ist auf das Wesen der Dinge gerichtet, gewinnt ihre Spezifik gegenüber anderen Wissenschaften durch ihre weltanschauliche Orientierung und ist deshalb nicht an eine direkte empirische Überprüfung gebunden;
  • Systematik: ihre Inhalte sind inhaltlich aufeinander bezogen, strukturell einheitlich in der Darstellung. Als System ist es wie alle Dinge etwas sich Bewegendes, da sie Einheit nur als Einheit von mannigfaltigen widersprüchlichen Momenten ist.
  • Ihre Inhalte haben nur in Prozeßform Bestand und sind nur durch denkende Tätigkeit zu erfassen.

Typisch fürs philosophische Denken ist das Nachdenken übers Denken. Nicht erst seit Kant - aber durch ihn explizit formuliert - wird darüber nachgedacht, was der "Gegenstand" unseres Erkennens eigentlich ist. Erkennen wir die Welt "an sich", so wie sie ist - oder wird sie erst durch unsere Wahrnehmung und unsere geistigen Prozesse "zurechtgemacht"; ehe sie als "Gegenstand" dem denkenden Bewußtsein zur Verfügung steht?

Modern gesprochen, existiert ja eine Selbstreferentialität. Sogar bei der Sinnesempfindung empfinde ich ja nur physiologische Prozesse in meinem Körper selbst. Ich nehme oft nur wahr, was für mich als Signal wichtig ist, alles andere streift mich nicht einmal. Beim Lernen kann ich auch nur dazulernen, was mir "in den Kram" paßt, wofür ich vorbereitet bin, was mich interessiert.

Das "Verhältnis der Welt im Kopf zur Welt außer dem Kopf "(Schopenhauer) ist also keine Trivialität.

Kopf im Kopf

Indem wir in der Philosophie explizit die Bedingungen und Voraussetzungen der Erkenntnis (allgemein und auch im Speziellen) hinterfragen, beugt sich das Bewußtsein in sich zurück. Bei Hegel ist der Verstand die einfache Reflexion. Erst die Reflexion über die Reflexion ist das wahre, vernünftige Denken. Auch bei Husserl ist das reflexive Bewußtsein wesentlich (als Epoché). Diese Reflexion bezieht sich nicht nur aufs Nachdenken, auf die Suche nach dem Wahren, sondern ebenso auf das Gute und Schöne. Dieser Aspekt geht in unserer wissenschaftlich-technisch geprägten Welt oft verloren (für uns als Menschen wie auch die Philosophie).

Das Motiv für dieses Nachdenken übers Denken ist aber nicht nur erkenntnistheoretisches Interesse. Viel grundlegender (und für die einzelnen Philosophen als Motiv oft nachgewiesen) ist die praktische Fragestellung danach, wie der Mensch zur Welt steht: Ist er nur ein unselbständiges Glied der Natur, das selbst nichts entscheiden und bestimmen kann - oder hat er die Freiheit, selbst zu entscheiden und Neues zu entwickeln?

"Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist - Freiheit" (Schelling 1795)

Dies war für Schelling auch der eigentliche Hintergrund für seine Systematik, die kein statisches Sein sondern die Dynamik in den Mittelpunkt stellte:

Philosophiren über die Natur heißt, sie aus dem todten Mechanismus, worin sie befangen erscheint, herauszuheben, sie mit Freiheit gleichsam zu beleben und in eigne freie Entwicklung versetzen..." (Schelling, 1799)

Bei Marx sind deswegen die Begriffe keine axiomatischen Definitionen, wie wir sie aus der Mathematik kennen, sondern Verhältnisse. Diese lassen sich nicht verdinglichen, sondern bleiben in Bewegung.

Die Aufgabe der Philosophie kann deshalb gesehen werden in:

  • der Erleichterung der Orientierung durch das Untersuchen von Bedingungszusammenhängen,
  • des Gewährleistens der Sicht auf das Ganzheitliche und die für die Bewegung notwendigen Differenzierungen,
  • der Kritik des Vorhandenen aus dem Horizont des Möglichen,
  • der Spekulation bei der durch die inneren Widersprüche intendierten Grenzüberschreitungen,
  • der Unterstützung der Sinnfindung und -bildung über die "endlich zu erreichende Einheit des Wissens, des Glaubens und Wollens" (Schelling 1799),

Philosophie gibt "Antworten auf die Fragen nach dem Ursprung, der Existenzweise und Entwicklung der Welt, nach der Quelle des Wissens, nach der Stellung des Menschen in der Welt, nach dem Sinn des Lebens und nach dem Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung" (Hörz 1995). Dabei ist Philosophie nicht nur Abbild des Vorhandenen, sondern "befaßt sich mit der Entstehung von qualitativ Neuem..." (Hörz 1984).

Obwohl ich all diese Bestimmungen eher nebeneinander gestellt habe und nicht auseinander abgeleitet, stellen sie in ihren Grundgedanken dar, was fast alle philosophierenden Menschen über Philosophie meinen.

Eine wichtige Differenz in der möglichen Betrachtungsweise möchte ich noch erwähnen:

Wenn Philosophie als Sinnsuche, als Aufzeigen eines "letzten" Horizonts und dessen, was "hinter" der Erscheinungswelt liegt, betrachtet wird, versucht sie als Metaphysik die einzig wahre Philosophie zu sein. Alle Aussagen über Strukturzusammenhänge der Welt sind dann lediglich Wissenschaft und "negative" Philosophie. Diese Ansicht setzt ein Absolutes als Sinn-Ziel der Welt voraus und hält eine Dialektik, die nur aus dem Konkreten heraus wirken kann, für nichtphilosophisch. Deutlich wird das u.a. bei Schelling, für den es keine Entwicklungs-Philosophie geben kann, weil nur die "nichtigen" Dinge in der Zeit evolvieren.

Bei Hegel, obwohl auch er mit dem Absoluten arbeitet, glaube ich ein anderes Konzept gefunden zu haben:

Bei ihm ist die Idee nicht ein außerweltliches Abstraktes, sondern eine konkrete, geistige Wesenheit, die den Unterschied in sich enthält. Bei ihm ist eine Identität immer das Einheitliche und das Unterschiedene zugleich. Das Einheitliche wird dem Differenzierten nicht entgegengestellt, sondern alles identische ist eine Einheit von Differenzierten und alles Unterschiedene ist unterschieden nur in Bezug auf ihre Identität. Das ist aber immer nur im Konkreten möglich, weil nur als Konkrete die Unterschiede ihre Widersprüchlichkeit und ihre Möglichkeiten realisieren.

Die Philosophie beschäftigt sich zwar mit dem Allgemeinen, aber in konkreten Begriffen, die sich bewegen, weil sie ihren eigenen Gegensatz in sich haben.

Für die Welt gesprochen: sie besteht nur aus konkreten Prozessen und Dingen, die ihre Widersprüchlichkeit in der Bewegung und Entwicklung ausleben. (Es gibt real nicht "die Materie", sondern nur Bereiche der Welt, die jeweils gleichzeitig Einheiten von Mannigfaltigkeiten und Momente umfassenderer Einheiten darstellen und sich deswegen bewegen und entwickeln.)

Sehen wir dies nicht, brauchen wir zur Begründung der Bewegung und der Ganzheiten etwas Außerweltliches, Absolutes. Ich persönlich meine hier, daß ich dies nicht brauche. Deshalb ist alles, was ich mache, für manchen sicher überhaupt keine Philosophie.

Wichtig ist jedoch die Unterscheidung von abstrakter Allgemeinheit von konkreter Allgemeinheit - so haarspalterisch dies klingen mag - für die Unterscheidung von sog. Allgemein- oder Strukturwissenschaften wie Kybernetik oder Synergetik oder Selbstorganisationskonzept von Philosophie.

Ich binde den Philosophiebegriff nicht an das metaphysisch Absolute, weil das eine Form der Antwort auf die zugrundeliegende Frage nach dem Verhältnis von "Ich und der Welt" ist.

Philosophie ist deshalb im allgemeineren Sinne das Nachdenken über sich und die Welt.

Dabei ist für das Ich selbst eine Entwicklung zu betrachten (nach K.Wilber). Vom präpersonalen, von seiner Umwelt noch nicht unterschiedenem Ich (beim Baby und bei den ersten Urmenschengesellschaften) differenziert sich das Ich als personales heraus. Dieses Ich kann im Extremfall (fast) total in Isolation zu seiner Umwelt geraten und in Klassengesellschaften auch zu seinen Mitmenschen und deshalb total als isoliert reflektiert werden. Fichtes "Ich bin Ich!" betonte die Eigenständigkeit des Ich gegenüber der sonst fesselnden Naturgewalt und -gesetzlichkeit. Dies fördert das Selbstbewußtsein (Freiheitsproblem!), kann aber auch verhängnisvolle naturzerstörerische Lebensweisen begünstigen. Der nächste Schritt, den die über den bloß isolierenden, abstrahierenden Verstand hinausgehenden menschliche Vernunft gehen muß, ist das Verständnis der nicht hintergehbaren Dialektik von Einheit und Differenzierung von Mensch und Welt. Diese sog. transpersonale Ebene füllt Ken Wilber mit fast rein geistigen Prozessen aus - an anderer Stelle ( "A Brief History...") betont aber Wilber selbst, daß andere Ebenen wie das Soziale (Wirtschaft, Kommunikation) und Kulturelle genauso wichtig sind, wie die individuelle und kollektive Geistigkeit.

Die Welt selbst ist auch in Bewegung. So richtig spannend wird es dann, (und nur so ist es seit Existenz der Menschheit auch real), wenn sich Mensch und Welt gemeinsam entwickeln. Sie sind nicht in absoluter Harmonie verbunden, sondern ihre Bestimmungen sind auch gegensätzlicher Art. Das Integrieren des Gegensätzlichen in immer neuen Stufen der Evolution ist das Faszinierende und als philosophisches Thema sicher ewig. Jeder Mensch lebt einen Teil dieses Geschehens mit. Er entwickelt sich und gestaltet Welt - je mehr er dies überlegt, mit Vernunft tut, desto größer ist die Chance, daß die Welt auch gut und schön wird.

Man kann sich keinen Menschen vorstellen, der nicht auch Philosoph ist,
der nicht denkt, eben weil das Denken dem Menschen als solchem eigen ist...
(Antonio Gramsci)

Literatur (nur eine kleine Auswahl):

Bloch, E.: Was ist Philosophie als suchend und versucherisch? (1955), In: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, Gesamtausgabe Band 10
Bloch, E.: Subjekt-Objekt

Bloch, E.: Tendenz-Latenz-Utopie
der blaue reiter. Journal für Philosophie, Nr. 1 und 2/1995
Eidam, H.u.Schmied-Kowarzik (Hrsg.): Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis - Auseinandersetzungen mit der Marxschen Theorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, Würzburg 1995
Fichte, J.G.: Die Bestimmung des Menschen, Leipzig 1976
Hegel, G.W.F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften
Hörz, H., Seidel, D.: Humanität und Effektivität - zwei Seiten der wissenschaftlich-technischen Revolution, Berlin 1984
Hörz, H.: Friedrich Engels und Hermann von Helmholtz - Zum Verhältnis von Naturphilosophie und Naturforschung, In: System & Struktur, Band III Heft, 1 (Sonderband: Naturdialektik heute) 1995
Poser, H.: Schwierige Orientierung - Die Zukunft der Philosophen, In: UNI 2/95
Richter, F.: Philosophie in der Krise, Berlin 1991
Sandkühler, H.J.: Demokratie des Wissens
Schelling, F.W.J.: Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt (1794), In: Ausgewählte Schriften,
Band I, Frankfurt/Main 1985
Schelling, F.W.J.: Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795), In: Ausgewählte Schriften, Band I, Frankfurt/Main 1985
Schelling, F.W.J.: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), In: Ausgewählte Schriften, Band I, Frankfurt/Main 1985
Schlemm, A.: Daß nichts bleibt, wie es ist..., Münster/Hamburg 1996
Warnke, C.: Die "abstrakte" Gesellschaft, Berlin 1974
Wilber, K.: Halbzeit der Evolution
Wilber, K.: A Brief History of Everything
Zimmermann, R.E.: Naturproduktivität und Innovation, Vor-Schein, 13/14, 1993


siehe auch:

Ein sehr schöner Text über die Philosophie von Waetzold Plaum




[Homepage] [Gliederung]



- Diese Seite ist Bestandteil von "Annettes Philosophenstübchen" © 1996/98 - http://www.thur.de/philo/as139.htm -