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Die Welt ist eine Aufforderung, über den nächsten Hügel zu gehen...

(John Barnes)

... und wir gehen immer wieder bis an den Horizont und über den nächsten Hügel. Manchmal aber - erst selten, später drängender - brauchen wir wieder ein Stück Heimatlichkeit, die uns geborgen hält.

Dieses Wechselspiel von Weggehen, Sicherheiten suchen und aufbauen und doch wieder Weitergehen begleitet uns unser ganzes Leben lang und eigentlich in jedem Moment unseres Gehens. Denn jeder Schritt braucht zwei Beine. Eins steht noch im Festen, Gesicherten - während das andere den Schritt in unbekanntes Neuland riskiert.

Nach Gerd Irrlitz versprechen die eine Lösung dieses ewigen Konflikts zwischen der dauernden (antagonistischen), stressigen Prozeßhaftigkeit und der endlich zu erlebenden Gemeinschaftserwartung dar. Wenn beides zu vereinen wäre...

Auf einer mehr individuellen Ebene kennzeichnete Schelling das ICH als eine Handlung, in der zwei Tätigkeiten dauernd im Streit sind. Eine der Tätigkeiten wirkt ins Unendliche, Unbegrenzte - wird aber begrenzt von der zweiten Tätigkeit, die selbst unbegrenzbar ist. Dieser Streit zwischen unendlichem Streben und seiner Hemmung durch sich selbst (nicht etwas Fremdes!) ist in Schellings Denkmuster grundlegend.

Jedes reale Sein ist nach Schelling nur ein Schweben zwischen der unendlichen Produktivität und der Hemmung. Würde eine der Seiten überwiegen, würde es sich entweder bis zur Unkenntlichkeit sofort im Unendlichen verlieren - oder es würde zum Nichts gedrückt. Diese streitenden Kräfte sind in allem Seienden enthalten und nicht zu verhindern.

Die Interpretation des kontrahierenden und des expandierenden Prinzips ist bei Schelling selbst nicht einheitlich. Zuerst versteht er in der Kontraktion die Kontraktion in die Selbstheit (gegen das Zerfließen im Ganzen), was im Extrem zu Egoismus führt. Diese Selbstheit muß ausgeglichen werden durch das expandierende Prinzipe der Gemeinschaftlichkeit, der Verbindung nach außen (HöRZ: Egoismus und Liebe). Später sieht er es etwas anders akzentuiert: das expandierende Prinzip ist der Drang nach Bewegtheit, die zur ir-rationalen Sucht werden kann. Das kontrahierende, entgegengerichtete Prinzip ist das der Vernunft, der Ordnung, des Maßes und der Form.

Das Verhältnis zu Menschen sieht Schelling ähnlich. Einerseits bin ICH selbst bestimmt durch meine eigene Individualität und als solche in meiner von mir gewählten Bewegungsrichtung durchaus frei. Eine Beschränkung kommt durch die Existenz anderer Intelligenzen (worunter er auch die schöpferische Natur versteht) als negative Bedingung meiner Freiheit - aber nicht als Ursache meines Tuns zustande. Wir wirken in Freiheit aufeinander ein. Das funktioniert nur, wenn wir eine gemeinschaftliche Welt zur Grundlage haben - aber das haben wir, zumindestens dadurch, daß auch wir eine Einheit in einer gemeinsamen Beschränkung haben.

Hegel sieht in diesem Fall der Gemeinschaftlichkeit gar nicht so sehr die Beschränkung wie die gegenseitige Erweiterung. "In der lebendigen Beziehung ist allein insofern Freiheit, als sie die Möglichkeit, sich selbst aufzuheben und andere Beziehungen einzugehen, in sich schließt."

Hier begegnen wir dem Begriff der "Aufhebung".

Verschiedene weltanschauliche Traditionen bieten innerhalb ihres Denkkonzepts Ansätze, diesen ewigen Konflikt zwischen Heimat/Integration/Sicherheit und Vorwärtsstreben zu verstehen und im eigenen Leben bewußt damit umzugehen.

Am verständlichsten äußerte sich in der letzten Zeit dazu Ken Wilber ("A Brief History of Everything"). Seine Geschichte von Allem zeigt immer wieder, daß Entwicklung davon gekennzeichnet ist, daß immer wieder Neues entsteht, das zwei wesentliche Merkmale hat:

1. es überschreitet das Frühere, Alte (Merkmale und Eigenschaften sind übertroffen oder gar neue eingeführt) und

2. es schließt die früheren, alten Zustände mit in sich ein.

"Transcend and include" - ist das von ihm betonte allgemeine Entwicklungsprinzip
(siehe Entwicklungsprinzipien und Dialektik).

Ken Wilber stellt folgende Überlegungen an:

Auf jeder Stufe gibt es eine Situation, wo undifferenziert etwas ineinander ruht, das später getrennt werden muß, um wieder neu, aber anders vereinigt werden zu können. Das undifferenzierte Ineinandersein von noch Ungetrenntem nennt er "Fusion", nach der Differenzierung ergibt sich eine "Integration". Im Moment der - schmerzlichen - Trennung will mancher zurück in die Fusion, aber er muß durch bis hin zur Integration.

Ken Wilber wendet diese Sichtweise vor allem an gegen die einseitigen ökologischen Ansichten, die nur zurückwollen in alte, verlorengegangene scheinbare Paradiese. Er weist für alle historische Zeitepochen der menschlichen Geschichte deren jeweiligen Charakter nach und sieht Bezüge zu verschiedenen "Schulen" der Ökologiebewegung. Während die Öko-Feministinnen vorzüglich in die Welt der Gartenbaugesellschaften zurückmöchten, wollen die "deep ecologists" - die er auch als "ecomasculinists" bezeichnet - in die Zeit der Jäger und Sammler zurück und empfinden schon die Grabstock-Anbaumethoden des Gartenbaus als "Verletzung der heiligen Erde". In beiden Gesellschaftsformen existierte, wie Wilber erwähnt, nicht das Paradies, sondern es gab Sklaverei, Kriege, Brautpreise usw. Wenn man (und frau) das alles nicht will, müsse man die menschliche Gesellschaft verlassen und zurück zu den Affen gehen... Diese ökologischen Ansichten benennt er ebenso wie -Schwärmereien vom "Wiedereintritt ins kosmische Bewußtseinsfeld" als "Flatland", weil sie nicht den Aufstieg in die höhere Ebene der Integration suchen.

Auch Schelling und Hegel (um wieder mehr in heimatliche Gefilde zu kommen) betonten die Unverzichtbarkeit von Widersprüchen - aber ebenso die Dynamik des Aufhebens und Neusetzens.

Schelling sieht in der Welt etwas ursprünglich Vereintes entzweit und er möchte es neu vereinigt sehen - aber als etwas anderes als das Ursprüngliche. Auch er würde "Flatland"-Harmonisierer kritisieren. Nicht die Trennung der Kräfte an sich macht nämlich die Disharmonie aus, sondern deren falsche Einheit (kein einzelner Ton macht eine Disharmonie) im "Flachland".

Hegel stellt auch fest, daß der Schmerz der empfundenen Trennung überhaupt erst zum Bedürfnis nach Philosophie führt.

Aber sie führt ihn nicht wirklich zurück in das breiartig-verwaschene Identische. Hegel unterscheidet hierfür die beiden Erkenntnisarten Verstand und Vernunft. Während der Verstand nur die einzelnen Begriffe in ihrer Eigenart - also in Trennung und Isolation voneinander - festhält, hat die Vernunft die Aufgabe, festgewordene Gegensätze wieder aufzuheben. Aber diese Aufgabe ist niemals vollständig lösbar: "die notwendige Enzweiung ist ein Faktor des Lebens, das ewig entgegensetzend sich bildet."

Auch bei Hegel gibt es wie bei Schelling (und später bei Wilber) die Dreiteilung: Identität Trennung Synthese.

Die Synthese ist eine doppelte Negation der Ursprungsidentität ("Negation der Negation"). Von "außen" gesehen ist sie etwas anderes als der Ursprung (einfache Negation). "Innen" enthält sie aber das Alte in sich. Altes und Neues ist gemeinsam enthalten. Erst doppelt negiert ist einmal vorwärtsgeschritten und nicht nur in der Verneinung und Trennung steckengeblieben....

19.8.1996
 

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