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Mails zur Dialektik

Hallo Annette,

ich befasse mich mit Dialektik ja erst seit ich dieses Referat halten musste. Das habe ich am Dienstag erfolgreich hinter mich gebracht! ...Entsprechend war ich auch mit meiner Literaturauswahl begrenzt. Während des Referierens sagte unser Prof., daß Hegel mit der Dialektik nur aufzeigen wollte, wie Menschen denken. Das war mir neu. Das hatte ich nirgends gelesen. Dies rückt Hegels Dialektik auch in ein anderes Licht. Nun ja, und damit frage ich mich ernstlich: Was kann man mit Dialektik praktisch anfangen, da es doch zu jeder These fast beliebige Antithesen, und entsprechend Synthesen, gibt (und keine Regeln zur Bildung der Antithesen)? Welche dialektischen Bezüge gibt es z.B. für die Erziehungswissenschaft? Das studiere ich nämlich!

Daniel H.


Hallo Daniel,

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Ansonsten ist es ein schweres Feld, nur "mal kurz" fuer ein Referat in die Dialektik reinzuschnuppern. Damit hatte ich im (Physik-)Studium auch immer so meine Probleme, dass man ein ganzes Fachgebiet nur kurz, z.B. in einem zweistuendigen Praktikum, abarbeiten sollte. Da bleibt dann nur das Gefuehl, dass man eh von nix was versteht oder man projiziert das aufs Thema: dass es eh nicht so wichtig sein koenne. Das aenderte sich erst ab 4. Studienjahr und mit selbstgewaelten Themen (Diplomarbeit).

Fuer Erziehungswissenschaft koennte Dialektik schon wichtig sein. Dialektik hat was mit Entwicklung zu tun und das passiert ja waehrend/bei der Erziehung. Es gibt da zwei Meinungen: a) Dialektik hat NUR was mit dem menschlichen Erkennen zu tun (aber schon dann waere es ja fuer Erziehung zum Erkennen/Denken wichtig) oder b) Dialektik passiert auch in der Natur ohne den Menschen (und dann betrifft es ganz allgemeine Entwicklungsprinzipien, die bei der menschlichen Entwicklung innerhalb des Erziehungsprozesses gleich recht vorkommen).

Am einfachsten ist das beruehmte Beispiel von den immer weiter fragenden Kindern. Sie nehmen die Welt war, nach einer Weile sehen sie noch was und wollen auch darueber was wissen, und dann noch was und dann noch was. Erst in der Schule gewoehnen wir ihnen das Fragen ab, weil wir sie mit Antworten vollstopfen. Aber die Art, wie in ihnen neue Fragen entstehen, hat schon was mit Dialektik zu tun. Und wenn ich ein guter Paedagoge sein will, sollte ich darauf eingehen und nicht nur Wissen in Trichter abfuellen...

Was absolut nicht stimmt, ist das Vorurteil, dass man mit der Dialektik jede beliebige Antithese zu jeder These bilden koenne. Bei Hegel gibts sogar nur so ziemlich genau eine ganz bestimmte Antithese zur These. Das versuche ich jetzt aufzubrechen, indem ich das "Moeglichkeitsfeld" (dieser Begriff stammt vom DDR-Philosophen Herbert Hoerz) betone.

Hegel lehnt uebrigens die Begriffsstruktur mit der "Synthese" explizit ab (wenn Du damit mal jemanden ueberraschen willst: das steht in der "Wissenschaft der Logik", Band I, S.100 (suhhkamp-ausgabe)). Synthese waere das Aneinanderfuegen von vorher Nichtzueinandergehoerigem. Tatsaechlich aber geht es um das Verhaeltnis von Sachverhalten, die miteinander von vornherein in einem engen Wechselverhaeltnis stehen (die sich ganz modern gebenden neuen Wissenschaftsparadigmen sprechen viel von Ganzheitlichkeit, in der alles mit allem zusammenhaengt. Da steckt das mit drin.)

Diese Sachverhalte (a) im Denken, oder nach b) auch in der Natur) haben die Eigenschaft, dass sie sich nur gegeneinander definieren lassen. (Ein Haus ist eben keine Strasse, kein Himmel, kein... usw. Wenn man etwas bestimmt, definiert - macht man das durch eine Negation, das wusste schon Spinoza: Jede Bestimmung ist eine Negation). Jedes Ding hat seine Eigenschaften zwar selber - zeigt sie aber nur in Wechselwirkung mit anderen...

Jedes Konkrete ist 1. es selbst (Identitaet) und 2. ein Unterschied zu etwas Anderem (Unterschied). Das ist ein spannungsvolles Verhaeltnis, das die formale Logik (mit dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten) nicht abbilden kann. Im Denken (a) und/oder b) der Realitaet tritt das aber dauernd auf! Oder (jetzt spreche ich doch fuer b)) ist der einzelne Mensch nicht einerseits ein Selbst - andererseits auch in der Entwicklung/Bestimmung dieses Selbst abhaengig von Anderen? Erziehung ist gerade der Versuch, auf dieses Wechselverhaeltnis aktiv Einfluss zu nehmen. Wie bildet sich das Selbst? Welche inneren Widersprueche tauchen wann wie auf? Wie werden sie gewoehnlich verarbeitet? An welchen Stellen kann ich als Anderer wie Einfluss nehmen?

Als "Formel" fuer Dialektik sollte man These-Antithese-Synthese vergessen und uebergehen zu "Identitaet von Identitaet und Unterschied". Keine Angst, das laesst sich erklaeren. Wichtig ist, dass alles Konkrete mit sich selbst identisch ist, aber Eigenschaften/Qualitaeten/sein Wesen erst offenbart in seiner Unterschiedlichkeit. Beides gehoert zusammen!

Ein anderer Fixpunkt, den man sich merken kann: das Wesen ist immer das praegende widerspruechliche Verhaeltnis im Innern des konkreten Dings/Sachverhalts/Gedankens... Hier wirds brisant fuer die Erziehung: Dein Schueler/... (und auch Du!) ist im Innern ganz selbstverstaendlich widerspruechlich. Die Widersprueche haben wahrscheinlich mit fortschreitendem Alter und Erfahrungen typische Inhalte. Alle Entwicklung (Erziehungsziel?) beruht auf dem Umgang, dem Loesen von Widerspruechen - wodurch sich neue entwickeln (ganz ohne Widersprueche hoert das Leben - zumindest das geistige - auf).

Mehr faellt mir auf Anhieb auch nicht ein. Den Bezug zur Erziehung hab ich theoretisch auch noch nie hergestellt, ich durchforste nur mein Gedaechtnis nach Erfahrungen mit mir und jetzt der eigenen Tochter und den Kindern meiner Freunde. Doch, da geht vieles dialektisch zu. Vergiss nicht: die "Synthese", wenn man das schon dazu sagt, ist nicht irgendwas, sondern der Punkt ueber dem Bisherigen auf einer Spirale, nicht einem Kreis, auf dem es egal waere, wo man ist. Auf der Spirale (mit Abzweigungen, die Hegel noch nicht kannte) jedoch sollte man schon abwaegen, wohin der Weg geht...

Vielleicht doch noch mal zu der Triade: Hegel kennt die "Negation" und die "Negation der Negation". In der Negation bezieht sich ein Etwas auf sein eigenes (nicht irgendein beliebiges) Anderes (zumindest ist das Etwas bestimmt dadurch, NICHT das Andere zu sein, siehe obiges Beispiel mit dem Haus). Es ist aber weiterhin ein Etwas und kein Nichts oder so. Wenn es sich aber auf sein Negatives bezogen hat, ist es ja nicht dieses, sondern seine eigene Fortsetzung in Negation dieses Negativen: es hat sich aufgehoben. Und da ist das Deutsche prima: Aufhebung bedeutet 1. verschwinden, 2. aufbewahren und 3. hochheben in eine neue Ebene der Spirale. Dieses zweite Etwas, die "Negation der Negation", die Aufhebung waere die "Synthese" - ist es aber gerade nicht, weil das Wort nur irreleitet.

Noch etwas Praktischeres: Einer der Vorvaeter der Dialektik ist Sokrates. Nach ihm wird didaktisch manchmal das "Sokratische Gespraech" erwaehnt (auch in der zumindest universitaeren Erziehung). Indem Rede und Gegenrede aufeinander folgen, lernen beide dazu und kommen zu dem Dritten, Weiterfuehrenden. Der Vorwurf, dass man damit alles und nichts begruenden koenne, ist philosophisch unwissend. Hat was mit der philosophiegeschichtlichen Einordnung der sogenannten Sophisten zu tun, die das oft zu Argumentationszwecken so praktizierten. Sokrates hatte mit denen aber sehr wenig zu schaffen.

Leider hab ich zu dem Ganzen keine kurze Literaturstelle parat. Falls Du das Thema im Hinterkopf behaeltst, stoesst Du aber sicher selber auch drauf. Man lernt ja wohl nicht nur fuer Referate - im Leben stoesst man vielleicht spaeter noch mal drauf. Falls es sich anbietet kannst Du jederzeit auf mich zurueckkommen, ich freue mich auf das Kennenlernen von Fragestellungen, die andere bewegen (dann hab ich eine Orientierung, womit ich mich beschaeftigen kann).

Jetzt, einen Tag spaeter nach dem Lesen der von Dir geschickten Dialektik-Kritiken merke ich natuerlich, dass all das Geschriebene fuer diese Leute ueberhaupt keine Argumente sind... Irgendwie ist es eine Vorentscheidung, wie man sich der Realitaet naehern will - ob logisch-analytisch oder dialektisch. Was man sehen will, sieht man dann auch... Ich denke aber, dass das Logisch-Analytische MEINE Fragen nicht besser beantworten kann als die Dialektik.

Ahoi

Annette


Daniel schickte mir zwei Texte über Dialektik, die mich zu einer Entgegnung anregten.

 

 

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