Philosophie in der DDR
          Abschnitt 10: Marxistische Kritiken an Materialismus-Konzepten
              (Frank Richter, Freiberg)
 

Daß es sich bei den nachfolgenden Kritiken wirklich um "marxistische" handelt bzw. gehandelt hat, ist von der in den sozialistischen Ländern herrschenden marxistisch-leninistischen Ideologie immer bestritten worden. Zum Teil haben sich auch die betreffenden Theoretiker selber nicht ganz festlegen wollen oder haben in ihren Einstellungen geschwankt oder diese mit der Zeit geändert. Wenn wir im folgenden mit Jean-Paul Sartre beginnen, dann haben wir solch einen "Fall" vor uns. Die eindeutige Zuordnung ist kompliziert, so daß es besser ist, einfach bestimmte konkrete Fragen zu erörtern. Gleichzeitig muß leider auch hier wieder betont werden, daß es sich nicht darum handeln kann, die Geschichte dieser Kritiken am etablierten Marxismus darzustellen. Wer sich umfassender informieren will, dem könnte als Einstieg bestimmte Literatur empfohlen werden.(1)

Sartre beschreibt seine persönliche Haltung zum Marxismus wie folgt: "Wir waren von zwei Dingen zugleich überzeugt, davon nämlich, daß einerseits der historische Materialismus die einzig gültige Interpretation der Geschichte an die Hand gebe und daß andererseits der Existenzialismus die einzig konkrete Zugangsmöglichkeit zur Realität bilde." Aber er muß sogleich hinzufügen: "Der Marxismus hatte uns - nachdem er uns angezogen hatte wie den Falter das Licht, nachdem er alle unsere Vorstellungen verwandelt und nachdem er für uns alle Kategorien des bürgerlichen Denkens zur Auflösung gebracht hatte - plötzlich im Stich gelassen; er befriedigte nicht unser Verständigungsbedürfnis auf dem neuen Gebiet, auf dem wir uns befanden; er hatte uns nichts Neues mehr zu lehren, weil er zum Stillstand gekommen war."(2)  Sartres erste Kritik am Marxismus besteht in dem Vorwurf, die Marxisten würden die Erfahrungen mit dem Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion nicht zur Kenntnis nehmen - wie es sich für eine materialistische Theorie gehört hätte -, sondern sie würden auf idealistische Art Menschen und Dinge  apriori-Ideen unterwerfen. Man treibe den empirischen Begriff zum vollendeten Typus und weise die mehrdeutigen Erfahrungsgegebenheiten ab; alles ist Klassenkampf, Konterrevolution, das Kleinbürgertum, das Proletariat - alles abstrakte, verallgemeinernde und totalisierende Schemata, die an das historische Geschehen angelegt werden. "Die offenen Begriffe des Marxismus sind zu geschlossenen geworden. Sie sind nicht länger Schlüssel, Interpretationsschemata; sie geben sich selbst den Anschein eines schon totalisierten Wissens. Der Marxismus erhebt, um mit Kant zu sprechen, diese singularisierten und fetischisierten Begriffe zu konstitutiven Begriffen der Erfahrung."(3)  Solche Phänomene wie die Ereignisse in Ungarn im Herbst des Jahres 1956 können dann nicht mehr sinnvoll gedeutet werden; ihre Rubrizierung unter "Aktivitäten des Weltimperialismus" versperrt einen Lern- und Entwicklungsprozeß. Sartre stimmt deshalb Lukács zu, der diese Verfahrensweise der terroristischen Liquidation der Besonderheit einen voluntaristischen Idealismus nennt - obwohl er selber oft genug der Geschichte Gewalt angetan habe.(4)
Daß der Marxismus kein (veränderbares) Wissen mehr, sondern ein Diktat geworden ist, zeige sich nicht zuletzt in seinem Konzept vom Menschen. Der Marxismus habe den Menschen in einer Idee aufgehen lassen, der Existenzialismus hingegen suche ihn überall, "wo er geht und steht", bei seiner Arbeit, zu Hause und auf der Straße. Im Unterschied zu Kierkegaard halte er den Menschen allerdings nicht für unerkennbar, sondern nur für noch nicht erkannt - weil sich der Mensch eben nicht durch den "rechten" und "linken" Idealismus der bisher zur Verfügung stehenden Begriffe erfassen läßt. Das ist Sartres Marxismuskritik, welche die eigentliche Wirklichkeit des Menschen einfordert.(5)  Sartre hält den Marxismus dabei durchaus nicht für überholt, sondern er bleibe die Philosophie unserer Epoche, "er ist nicht überlebt, weil die Zeitumstände, die ihn hervorgebracht haben, noch nicht überlebt sind".(6)  Er halte sich nur deshalb nicht für einen Marxisten, "weil wir die Behauptungen von Marx und Garaudy für Leitprinzipien, für Aufgabenstellungen, für Probleme und nicht für konkrete Wahrheiten halten, weil sie uns ungenügend bestimmt und deshalb vieldeutig zu sein scheinen".(7) -

An derartige Literatur heranzukommen, war schwierig, aber nicht unmöglich. Mitte der 60er Jahre konnte man sich noch privat Literatur "von drüben" an das Institut schicken lassen. Das Paket wurde zwar geöffnet, vom Institutsdirektor "begutachtet" und dann mit bestimmten Bemerkungen an den Empfänger ausgehändigt. Oder man besorgte sich vom gleichen Direktor eine Genehmigung, sekretierte, also in den "Giftschränken" spezieller Abteilungen der wissenschaftlichen Bibliotheken befindliche Literatur lesen zu dürfen. Die Wendeltreppe in der Deutschen Bücherei zu Leipzig wird mir ewig im Gedächtnis bleiben; freilich war das Bemühen oft vergeblich, weil die benötigte Literatur gerade von einem Leipziger in Beschlag genommen war, und zwar für ziemlich lange. Wenige Jahre später wurden die Zollbestimmungen verschärft und es blieb dann nur noch jener zuletzt erwähnte Weg übrig, wollte man wirklich solche Sachen lesen und das eigene Gemüt damit beschweren.
Sartre konnte einen schon "belasten", und es war nicht so einfach, das Gelesene zu verarbeiten. Natürlich gab es immer auch Kollegen, mit denen man über solche Probleme reden konnte; aber es gab auch andere.. Damit verblieb eine Problembewältigung letztlich immer in der Sphäre des Privaten, des eigenen Interesses, des eigenen Engagements. Sartres Argumente waren natürlich ein starkes Stück. Manches sagte mir durchaus zu; mit der Einschätzung "voluntaristischer Idealismus" konnte und wollte ich freilich nicht konform gehen. Dabei akzeptierte ich auch Sartres kritische Einschätzung der marxistischen Erkenntnistheorie, welche er für den schwächsten Punkt im Marxismus hielt. Die (von ihm ungenau Marx zugeschriebene) These, Materialismus bedeute, die Welt so zu nehmen, wie sie ist, steht ihm für eine idealistische und undialektische Auffassung von der Erkenntnis, wobei auch Lenins Auffassung von der "unendlichen Annäherung an die absolute Wahrheit" keine Gnade findet. Hier werde ein Doppelspiel getrieben: "Es gibt im Marxismus ein konstituierendes Bewußtsein, das a priori die Rationalität der Welt behauptet (und infolgedessen dem Idealismus verfällt); dieses konstituierende Bewußtsein determiniert das konstituierte Bewußtsein des Einzelmenschen als bloßen Reflex (was zu einem skeptischen Idealismus führt). Beide Auffassungen laufen letzten Endes auf die Zerstörung des wirklichen Verhältnisses von Mensch und Geschichte heraus." Erkenntnis werde so immer nur als reine Theorie und individuelle Erkenntnis immer nur als passives Hinnehmen verstanden.(8)

Ich sah mich deshalb nicht gezwungen, Sartres Kritik vorbehaltlos zu akzeptieren, weil ich den Gegensatz zwischen dem Anspruch der Feuerbach-Thesen von Marx und dem praktizierten Marxismus-Leninismus im Grundlagenstudium und anderswo sah; somit konnte ich also durchaus „Marxist" sein und bleiben, ohne wiederum Sartre einfach ablehnen zu müssen. Freilich gehört es dann zur unheilvollen Dialektik jener Zeit, daß man, um Philosophen wie Sartre in der Sache folgen zu können, sich von der Person distanzieren mußte. Das schien aber vielen von uns die einzige Möglichkeit zu sein, überhaupt etwas voranbringen zu können. Heute müßte man sich dafür vielleicht schämen; aber man kann "opportunistisch" (?) fragen, warum dieses Verfahren nicht auch zu jenen Strategien gehören sollte, deren sich die Vernunft in ihrer List bedient, dem Fortschritt voranzuhelfen?!
Ich möchte im weiteren ein anderes Beispiel herausgreifen, an dem die Debatte um weltanschauliche Grundpositionen im Marxismus oftmals geführt wurde, beginnend mit G. Lukács’ "Geschichte und Klassenbewußtsein" aus dem Jahre 1925, und immer noch nicht endend mit dem Streitgespräch zwischen den Philosophen Sartre und Jean Hyppolite auf der einen, den "Marxisten" Roger Garaudy und Jean-Pierre Vigier auf der anderen Seite, begleitet vom Naturwissenschaftler Jean Orcel um das Problem der Existenz oder Nichtexistenz einer objektiven Dialektik der Natur. Diese Diskussion fand im Dezember des Jahres 1961 statt, und sie sollte die Frage beantworten, ob es gerechtfertigt ist, die Vorstellungen vom dialektischen Gang der Geschichte auch auf die Prozesse in der Natur zu übertragen.(9)
Wer den Abschnitt über Stalin gelesen hat, hat vielleicht noch dessen Bemerkung im Gedächtnis, historischer Materialismus bedeute die Übertragung der aus dem Studium der Natur gewonnenen dialektischen Gesetze bzw. des dialektischen Materialismus auf die Gesellschaft. Tatsächlich - und darauf weist Sartre in dieser Debatte hin - ist zuerst der historische Materialismus durch Marx und Engels entwickelt worden, erst später haben Marx und vor allem Engels den Nachweis zu führen gesucht, daß die Gesetze der Dialektik(10) auch in der Natur gelten. Engels nahm dabei an, diese Gesetze gleichsam empirisch aus den Ergebnissen der damaligen Naturforschung herausdestillieren zu können, und er wollte unbedingt den Eindruck vermeiden, er würde, analog zu den Spekulationen der deutschen Naturphilosophie um Schelling, die dialektischen Prinzipien künstlich in die Natur bzw. Naturauffassung hineintragen. Gleichzeitig konnte so ein Beitrag zur materialistischen Weltanschauung erwartet werden, wenn es gelang zu zeigen, daß die Entwicklung der Natur nicht etwa Ausdruck eines göttlichen Wirkens und Schaffens, sondern aus dem Wirken dialektischer Widersprüche erklärbar ist. Insbesondere die Debatte um die Abstammungslehre (Darwin, Ernst Haeckel) schien eine solche Deutung zu unterstützen. Immer mehr geriet auf diese Weise die "Dialektik der Natur" zu einem Prüfstein für den Materialismus überhaupt; hier sollten nicht zuletzt die verschiedenen Aspekte des Primats der Materie gegenüber dem Bewußtsein ihre Berechtigung erfahren.
Für Hegel kam freilich eine Dialektik der Natur nicht in Frage; Dialektik erforderte für ihn stets eine Beziehung von Objekt und Subjekt - was nur für die Gesellschaft gelten kann. Auffassungen  dahingehend, daß es zwar eine Dialektik der Geschichte, aber keine der Natur geben könne, wurden deshalb scheinbar korrekt immer als idealistisch, hegelianisch, bewertet und kritisiert. Andererseits wollten die orthodoxen Marxisten in der Regel aber auch keine Naturdialektik im Sinne einer Naturphilosophie gelten lassen. In diesem Widerspruch bewegten wir uns hin und her, und die Situation wurde nicht einfacher dadurch, daß seit ca. 25 Jahren Theorien wie die der Selbstorganisation, der Synergetik oder der Autopoiesis auf dem wissenschaftlichen Markt sind, welche den Einwand zu entkräften scheinen, mit dem Sartre damals 1961 in Paris seine Ablehnung einer Naturdialektik begründete: es gäbe in der Natur keine Ganzheiten, keine Totalitäten. Solche würden immer erst durch die Praxis des handelnden Menschen geschaffen; hinsichtlich der Erkenntnis der Natur gelangten wir aber stets nur bis zur Synthese.(11)  "Dialektik der Natur" sei also nur Analogie, Metaphorik, eigentliche Dialektik werde nur durch menschliche Tätigkeit konstituiert. Die Erkenntnis der Natur wiederum sei durch die der menschlichen Tätigkeit innewohnende Dialektik, also die Vermittlung von Objekt und Subjekt, wesentlich bestimmt. Damit schaffe der materialistische Monismus den Dualismus von Denken und Sein zugunsten des totalen, also in seiner Materialität erfaßten Seins, ab.
Ich denke, daß Sartre in der genannten Frage grundsätzlich Recht hatte; begreifen konnte ich das aber erst viel später. Die Tatsache, daß der philosophisch-dialektische Widerspruchsbegriff in keiner Naturwissenschaft verwendet wird und verwendet werden kann, auch nicht in der Quantenmechanik, welche sich mit der Dualität von Welle und Teilchen doch eigentlich besonders eignen müßte, verweist darauf, daß die Sprache der Dialektik eine Sprache der Philosophie ist. Demzufolge ist die Rede von einer "Dialektik der Natur" eine philosophische Aussage, und keine geologische, physikalische, usw. Damit ist in ihr eine spezifische Objekt-Subjekt-Beziehung enthalten bzw. verborgen, die für die Geologie, die Physik zwar interessant, aber nicht gegenstandsbildend sein kann. Die häufig an den Naturforscher gestellte Anforderung bzw. die von ihm gelegentlich übernommene Selbstverpflichtung, nachzuweisen, daß es in dem von ihm untersuchten Naturbereich dialektisch zugehe, ist demzufolge also dann eine unerlaubte Grenzübertretung, wenn sie sich nicht ausdrücklich als philosophische Überlegung artikuliert.
Gleichzeitig erweist sich damit die Vorstellung, man könnte den philosophischen Materialismus mittels Beispielen aus den Naturwissenschaften beweisen, begründen oder wenigstens bestätigen, als naiv. Es ist vielmehr der menschlichen Erkenntnis immanent, daß immer auch idealistische Interpretationen möglich sind. Das beginnt mit der Sinnesempfindung und endet bei der Theoriebildung. Selbst meine sich dann später einstellende, schon skeptischere Meinung, es ließen sich die materialistischen Interpretationen wenigstens besser oder leichter mit den betreffenden Wissenschaften vereinbaren als idealistische, dürfte wohl nicht stimmen. Die um Quantenmechanik und Relativitätstheorie geführten philosophischen Diskussionen und die dabei von den betreffenden Physikern zumeist eingenommenen "idealistischen" Positionen sprechen eher für das Gegenteil.
Wenn das alles wenigstens annähernd richtig ist, dann kann aber die Leugnung einer angeblichen Dialektik der Natur auch wieder nicht einfach idealistisch sein. So billig sind weder materialistische noch idealistische Konzepte zu bekommen - oder zu widerlegen. Aber das entzog sich wohl auch und gerade dem Philosophieverständnis Lenins, wenn er die Schlußfolgerungen der "Machisten" aus der modernen Mikrophysik sofort mit dem subjektiven Idealismus, dem Solipsismus des englischen Bischofs Berkeley verglich. Für Lenin ist es keine Frage, daß wir über die Sinneswahrnehmung direkt Kontakt mit der Materie aufnehmen, die Existenz der Materie demzufolge millionen- und abermillionenfach durch die Wissenschaften und durch den Alltag bewiesen worden sei. Ähnliches behauptete auch Engels hinsichtlich der „materiellen Einheit der Welt". Aber: Die Physik kann zwar nie die Existenz Gottes beweisen, aber die materielle Einheit der Welt ist ebenso wenig ihr Geschäft. Die Sinnhaftigkeit eines Begriffes von Materie können sich Philosophen nicht durch ihre Sinnesorgane bestätigen lassen. Natürlich war Lenin an dieser Stelle nicht nur blauäugig. Er sah, daß die Bestimmung des Verhältnisses von Materie und Bewußtsein kompliziert ist, zumal im menschlichen Handeln immer Materielles und Materielles untrennbar miteinander verknüpft sind. Aber er wollte nicht von jener absoluten Gegenüberstellung ablassen, die von Descartes und Spinoza in die Philosophie eingeführt und durch Engels dann auch noch zum ersten philosophischen Prinzip des Marxismus erhoben worden war. Die einzige dafür noch bestehende Möglichkeit glaubte Lenin in der erkenntnistheoretischen Gegenüberstellung von Materie und Bewußtsein zu erkennen, in welcher die Frage nach dem Primat noch sinnvoll zu sein schien.(12)  Damit mußte aber jene philosophische, dialektische, Betrachtung des Erkenntnisprozesses aus der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie herausfallen, und jeder, der die Subjektivität der Gegenstände der Erkenntnis behauptete, galt als Idealist.
Auf ähnliche Weise versündigte sich Lenin an Bogdanow, der zu der Überlegung kam, daß nicht nur in der physikalischen Natur, sondern erst recht in der Gesellschaft eine Gegenüberstellung von Materiellem und Ideellem weder sinnvoll noch nachweisbar ist. Natürlich gibt es vom Willen des Menschen unabhängige Prozesse und Strukturen in der Gesellschaft, und dies nicht zuletzt im Bereich der materiellen Produktion. Aber die Anerkennung dieses Tatbestandes und die Meinung, aus dieser Tatsache eine philosophische materialistische Theorie der Gesellschaft ableiten zu können, sind wohl doch zweierlei. Unabhängig von meinem Willen können auch Ideen, Theorien, die Vorstellungen anderer Menschen sein, und daß die Produktivkräfte für die Entwicklung der Menschheit eine solch große Bedeutung besitzen, muß nicht bedeuten, daß sie materiell sind. Wenn man aber doch darauf besteht, so reduziert sich deren Materialität darauf, daß in einem bestimmten Moment der Erkenntnis ein individuelles Subjekt bestimmte Eigenschaften (etwa eines technischen Mittels oder eines Arbeiters) beobachtet, die unabhängig vom Willen und Bewußtsein des betreffenden Erkenntnissubjekts existieren. Ganz abgesehen davon, daß es dabei durchaus auch ideelle Gegebenheiten feststellen könnte, die als materiell zu bezeichnen dann wohl doch ziemlich willkürlich wäre, z.B. die Fähigkeit eines Arbeiters, komplexe handwerkliche Tätigkeiten ausführen zu können, so ist natürlich die Frage zu stellen, was denn an solcher Feststellung philosophisch so bedeutsam ist, daß sie zur philosophischen Grundfrage gemacht werden mußte.
Sicher steckt da die Überzeugung dahinter, daß, wer erfolgreich handeln will, erst einmal seine Umgebung, die Bedingungen seines Handelns möglichst exakt abbilden muß. Aber mit Ausnahme eines extremen subjektiven Idealisten wird das wohl von niemandem bestritten. Auch könnte die - idealistische? - Überzeugung, daß eine solche Abbildung nur sehr ungenau und zweifelhaft sein kann, den Menschen davor bewahren, zu forsch bestimmte Ziele und Absichten umsetzen zu wollen. Jene - materialistische? - Überzeugung von der Erkennbarkeit der Welt kann also lebensgefährlich sein. Dagegen hätte aber gerade ein Materialismus vorzusorgen... Hinzukommt, daß unabhängig von der möglichen Exaktheit einer Widerspiegelung der Wirklichkeit die Frage äußerst umstritten ist, ob eine richtige Abbildung der Wirklichkeit tatsächlich eine hinreichende Voraussetzung für erfolgreiches Handeln ist, für welches genau so gut Werte, Normen, Motivationen u.a. konstitutiv sind.
Wir sehen, wie ein offensichtlich sehr vereinfachter Materialismus sehr schnell in Idealismus, ja sogar in Voluntarismus umschlagen kann und wohl auch wirklich umschlagen muß. Naive Fortschrittsgläubigkeit und ein naiver Materialismus bedingen einander also wechselseitig; lösen wir uns von dem einen, so läßt das sich andere auch nicht mehr halten. Die sog. kritische Theorie der Frankfurter Schule, verbunden mit Namen wie Adorno, Horkheimer, Marcuse und wohl auch Habermas steht m.E. für sinnvolle Überlegungen in genau dieser Richtung.
Theodor Adorno bezog sich direkt auf Lenin, wenn er schrieb: „Die offiziell materialistische (Theorie) hat die Erkenntnistheorie durch Dekrete übersprungen. Rache ereilt sie erkenntnistheoretisch: in der Abbildlehre. Der Gedanke ist kein Abbild der Sache - dazu macht ihn einzig materialistische Mythologie Epikurischen Stils, die erfindet, die Materie sende Bildchen aus -, sondern geht auf die Sache selbst. Die aufklärende Intention des Gedankens, Entmythologisierung, tilgt den Bildcharakter des Bewußtseins... Die Abbildtheorie verleugnet die Spontaneität des Subjekts... so resultiert die friedlose geistige Stille integraler Verwaltung... Illusion geht über in dogmatische Unmittelbarkeit."(13)  Lenin habe sein politisches Bedürfnis gegen das theoretische Erkenntnisziel gerichtet, das Kritisierte habe er nicht philosophisch überwunden, so daß es jeden Tag neu auferstehen könnte.-
Die Liste der kritischen Einwände gegen den Marxismus bzw. Marxismus-Leninismus "aus den eigenen Reihen" ließe sich hier fast beliebig fortschreiben. Man müßte Antonio Gramsci würdigen, der das klassische Basis-Überbau-Schema durch die Ebene der "politischen Gesellschaft" erweiterte, in der sich bestimmte demokratische Mechanismen herausgebildet haben - auf die wiederum im Sozialismus nicht verzichtet werden dürfte. Jürgen Habermas versuchte eine Rekonstruktion des historischen Materialismus, indem er eine Relativierung der Bedeutung von Kategorien wie "Arbeit" oder "Produktionsverhältnis" für die materialistische Gesellschaftstheorie vornahm und an deren Stelle konkretere soziologische Überlegungen zu Interaktionen bzw. kommunikativen Tätigkeiten setzen wollte. Aber auch noch weiter "links" stehende Philosophen aus der BRD versuchten, eine marxistische Philosophie mit den geistigen Grundprozessen unserer Zeit zu konfrontieren und sie so zu aktualisieren.(14)  Es gab nur wenige marxistische Philosophen in der DDR, die sich solchen Vorschlägen gegenüber zu öffnen bereit waren. Heute haben wir (?) die Rechnung dafür zu bezahlen.

Zum Schluß noch eine Bemerkung: Nun müßte es eigentlich erst richtig losgehen. Die Geschichte ist zu Worte gekommen, es fehlt aber nun der Blick auf künftige Entwicklungen. Aber das zweite kann man nicht haben ohne das erstere, und es würde weitaus mehr Raum beanspruchen, nun eine Synthese zu entwickeln - vorausgesetzt, die dafür notwendigen Theorien und die entsprechenden geistigen Fähigkeiten wären vorhanden, jene zu verarbeiten.
Bei Null müßte man dabei zwar nicht anfangen, aber es wäre wohl zu früh zu erwarten, 8 Jahre nach der Wende könnten marxistische Philosophen schon all das auf den Tisch legen, was über Jahrzehnte von ihnen vergebens erwartet worden war. Nehmen Sie als Leser das hier Vorgelegte zunächst bitte als das, was mir jetzt als erster Schritt möglich erscheint: für den einen den Eindruck zu verwischen, als sei die marxistische Philosophie unberührt aus dem Scheitern des realen Sozialismus in Europa hervorgegangen und als bedürfte es nun nur einer kurzen Sammlung, um neue, konkretere Utopien als bisher zu entwickeln. So ist es nicht; marxistische Philosophie, wenn sie denn vielleicht diesen Namen erst wieder verdienen will, muß eine Menge tun, um überhaupt erst einmal wieder festen Fuß zu fassen. Sie war nicht nur ein Opfer von Politik, sondern auch aktiv an politischen Fehlentwicklungen beteiligt. Bei anderen möchte ich die Überzeugung angreifen, marxistische Philosophie sei immer und überall falsch und auch immer und grundsätzlich zu eigener Weiterentwicklung und Korrektur unfähig.
Der nächste Schritt wird sein, die Möglichkeit verschiedener philosophischer, den Materialismus fortführender oder wenigstens an ihn anknüpfender Modelle auszuloten und auf dieser Grundlage Möglichkeiten und Grenzen des Dialogs mit den Wissenschaften und mit anderen  Weltanschauungen zu erörtern und diesen Dialog auch zu beginnen. Inwieweit dann die Alternative "Materialismus-Idealismus" noch zu einem vernünftigen Gespräch beitragen kann, wird sich wohl erst in diesem Gespräch selber erweisen.

Literatur:

1) z.B. Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften in 4 Bänden, Felix Meiner Verlag Hamburg 1990, u.a. die Stichworte Materialismus, Materie, Marxismus. Siehe auch: Kritischer Materialismus. Hrsg. V. M. Lutz-Bachmann und G. Schmid Noerr. Edition Akzente Hanser 1991
2) Jean-Paul Sartre: Marxismus und Existenzialismus (1960), Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg, 1964, S.21
3) ebenda S.22-24
4) ebenda S.26
5) ebenda
6) ebenda S.27/28
7) ebenda S.32
8) ebenda S.30/31, Fußnote
9) vgl. dazu auch K. Reiprich: Die philosophisch-naturwissenschaftlichen Arbeiten von Karl Marx und Friedrich Engels. Dietz Verlag Berlin 1969
10) Unter den drei Gesetzen der Dialektik versteht man normalerweise das Widerspruchsgesetz (der Widerspruch, verstanden als Kampf und Einheit der Gegensätze, ist die universelle Triebkraft aller Bewegung und Entwicklung), das Gesetz vom Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative sowie das Gesetz der Negation der Negation.
11) Existentialismus und Marxismus. Eine Kontroverse zwischen Sartre, Garaudy, Hyppolite, Vigier und Orcel. Suhrkamp Verlag 1986, S.27
12) W.I.Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, Lenin Werke, Bd.14, S.142
13) Th. W. Adorno: Negative Dialektik. Suhrkamp taschenbuch wissenschaft Frankfurt a. M. 1982, S.205
14) vgl. stellvertretend für ähnliche Vorhaben die Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, herausgegeben von Hans Jörg Sandkühler in 4 Bänden, Felix Meiner Verlag Hamburg 1990