Philosophie in der DDR

(Frank Richter, Freiberg)
 

Abschnitt 9: Marxistisch-leninistisches Grundlagenstudium in der DDR
 
 

Ich kann keine Geschichte der Philosophie in der DDR schreiben - nicht einmal die des Grundlagenstudiums an den Hochschulen und Universitäten von 1951 an. Es stünde mir auch nicht zu, da ich nur als Seiteneinsteiger in die community der Philosophen gekommen bin und auch dort mehr oder weniger nur an der Peripherie gewirkt habe. Auch für etablierte DDR-Philosophen galt eine Tätigkeit im Bereich des marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums als eine zwar notwendige und ehrenwerte, aber nichtsdestotrotz doch nicht ganz so hochwertige Aufgabe im Vergleich zur Arbeit an einer Universität mit Philosophie-Studiengang oder gar an einer der Akademien in Berlin. Auch verfüge ich nicht über ausreichenden Einblick in die Gepflogenheiten der politischen und wissenschaftsorganisatorischen Schaltstellen der DDR-Philosophie.
Es soll auch keine Geschichte des marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums der DDR werden, obwohl es sicher interessant wäre, die hierzu seinerzeit am Franz-Mehring-Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig angestellten Untersuchungen erneut anzusehen und notfalls gegen den Strich zu bürsten. Hier soll nur etwas über die Art und Weise berichtet werden, wie im sog. "MLG" - und diese Abkürzung werde ich ab sofort verwenden - Philosophie betrieben wurde und welche Probleme sich dabei schon zu früheren DDR-Zeiten auftaten.
Als ich im Jahre 1956 an der Bergakademie Freiberg mein Studium aufnahm, war das MLG bereits 5 Jahre alt. Es war im Jahre 1951 per Beschluß im gesamten Hochschulwesen eingeführt worden - in der an und für sich vernünftigen Überlegung, daß die heranwachsende neue, sozialistische Intelligenz mit den Grundlagen des Marxismus-Leninismus vertraut gemacht werden mußte. In den Jahren davor hatte es einen heftigen Kampf zum Zwecke der Verdrängung der Vertreter der "alten" Geistes-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gegeben. Diese gingen vielfach in den Westen. Bis auf ganz wenige Ausnahmen, zu denen Ernst Bloch gehörte, welcher aus den USA einem Ruf nach Leipzig folgte, und abgesehen von einigen Gastprofessoren aus der Sowjetunion, mußte der philosophische Lehrkörper aus dem Boden gestampft werden. Sonderlehrgänge sowie ein an den großen Universitäten wie Berlin, Leipzig und Jena beginnendes Philosophiestudium hatten dafür zu sorgen. Korsettstangen wie Georg Klaus, Hermann Ley, Georg Mende, Kurt Hager, Gerhard Harig und andere trugen dazu maßgebend bei. Nach einer gewissen Übergangszeit konnte ziemlich schnell von einem geregelten Vorlesungs- und Seminarbetrieb gesprochen werden. Im Verlaufe der Studienzeit waren die Lehrveranstaltungen in dialektischem und historischem Materialismus, wissenschaftlichem Sozialismus, politischer Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus sowie in Geschichte der  KPdSU bzw. dann der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung zu belegen, wobei die Teilnahme obligatorisch war und keine Wahlfächer o.ä. vorgesehen waren. Allerdings gab es bald  im 4. Studienjahr eine Spezialveranstaltung, in der man zu einem Thema der eigenen Wahl eine Semesterarbeit abzuliefern hatte.
Der Beginn meines eigenen Grundlagenstudiums, das man ja durchaus mit einer Art von studium generale vergleichen konnte, stand unter keinem sehr günstigen Stern, obwohl bzw. gerade weil es das Jahr 1956 war. Ich denke da zum einen an den bereits erwähnten XX. Parteitag der KPdSU, der die Möglichkeit zu einer offeneren Diskussion geistesgeschichtlicher Grundfragen hätte öffnen können; zum anderen gab es aber auch die Ereignisse in Ungarn, die mit der Zerschlagung  - soll ich nun sagen: der Volkserhebung oder des konterrevolutionären Aufstandes? - durch sowjetische Truppen vorläufig endeten. Es sind wohl die Ungarn-Ereignisse gewesen, die sofort wieder jeden Ansatz blockierten, mit den durch den XX. Parteitag gegebenen Möglichkeiten wirklich ernst zu machen. Ich hatte mich aber für den Sozialismus entschieden, und von den theoretischen Problemen vor und nach dem Parteitag auf dem Gebiet der Philosophie hatte ich keine Ahnung. So studierte ich also im Rahmen der dafür vorgesehenen Zeit an der Bergakademie Freiberg den Marxismus-Leninismus, und ich muß sagen, er gefiel mir nicht schlecht. Zumindest fand ich die Theorie besser als - von einigen Ausnahmen abgesehen - die Lehrkräfte, die die Theorie vertraten und vermitteln sollten. Manche Lehrkraft hätte einem die Theorie schon verleiden können, zumal sie oft mit politischen Aufgabenstellungen verbunden war, über die es sich lohnte zu streiten, und in einem gewissen Umfange haben wir das auch gemacht. Aber wir beabsichtigten ja nicht, Philosophen bzw. Geisteswissenschaftler zu werden. Insofern verdrängten wir auch manches Problem und konzentrierten uns auf das eigentliche Hauptfach.Das war bei mir die Metallkunde.
Die Philosophie sagte mir im MLG dabei noch am meisten zu; die Nähe zur Politik war bei einer Reihe von Themen doch nicht so intensiv und die Beziehungen von Philosophie und Naturwissenschaften begannen mich speziell zu interessieren. Auf diesem Gebiet war wohl dann doch auch die Wirkung des XX. Parteitages der KPdSU am nachhaltigsten. Beiträge zur Philosophie der modernen Naturwissenschaften aus zumeist sowjetischer Feder in der Studentenzeitung "Forum" sprachen mich besonders an, und die Lehrkräfte im Bereich Philosophie waren flexibel genug, um mich hier dilettieren zu lassen.
Wissenschaftlicher Sozialismus und politische Ökonomie sagten mir dagegen weniger zu, wobei das dann also nicht nur an den Lehrkräften lag. Hier fand ich keine emotionale Bindung, auch wenn ich die meisten Lehrsätze schon akzeptieren konnte. Als dann die Frage kam, ob ich nicht nach dem Studium generell zur Philosophie überwechseln wollte, sagte ich zu, weil mich das Fach immer mehr zu interessieren begann. In gewisser Weise, so stellte ich dann später fest, entwickelte ich so etwas wie einen missionarischen Eifer: Ich hatte ja doch mitbekommen, wo die bisherige marxistische Philosophie speziell im Hinblick auf die theoretischen Fragen der modernen Naturwissenschaften ihre Probleme hatte, und ich fühlte mich als Natur- bzw. Ingenieurwissenschaftler irgendwie dazu berufen, den Philosophen zu zeigen, "wo es lang geht". Das war natürlich auch wieder überheblich, aber als junger Mensch hat man nun mal solche Anwandlungen.
Ich stürzte mich mit Begeisterung in das philosophische Leben an der Humboldt-Universität zu Berlin, war von Hermann Ley fasziniert und ärgerte mich über Robert Havemann. An letzterem störte mich nicht so sehr das, was er sagte, sondern wie er es sagte: Überheblich, monologisch, zu keiner echten Diskussion bereit, in manchem schon wieder selber dogmatisch. Auch Hermann Ley überzeugte mich nicht in allem; die Vereinbarkeit von Materialismus und Naturwissenschaft zu zeigen war das eine, den philosophischen Materialismus noch stärker auf seine eigenen Defizite hin zu befragen, wäre das andere gewesen. Hier passierte bei Ley zu wenig und mich überzeugte da schon eher Herbert Hörz, der mir theoretisch konstruktiver erschien und das wohl auch unbestritten war. Aber die meisten Philosophen kniffen, wenn es ans "Eingemachte" ging; sie hatten da wohl schon wieder zu viel zu verlieren. Andererseits verschaffte ein solcher Opportunismus wiederum Spielräume in zweitrangigen Fragen, und so konnte sich ein reges wissenschaftliches Leben entfalten. Nicht gerade eine angenehme Lebenserfahrung in dieser Zeit war das "Parteileben" am philosophischen Institut in Berlin; die begrüßenswerte Wiederaufnahme Peter Rubens in die SED und der von mir damals für gerechtfertigt gehaltene Ausschluß Wolf Biermanns vom Philosophie-Studium und aus der SED hinterließen insgesamt mehr als zwiespältige Gefühle. Es gab offensichtlich kein Konzept, sich innerhalb der Partei vernünftig mit strittigen Problemen auseinanderzusetzen, ohne daß Köpfe rollten - und da hatte ich die Zustände an der Leipziger Universität im Zuge der Auseinandersetzung mit den "Bloch-Anhängern" gar nicht bzw. erst später vom Hörensagen kennengelernt. Und doch hatte Kurt Hager auf der schon erwähnten Freiheitskonferenz im Jahre 1956 Ernst Bloch als seinen Freund bezeichnet; freilich zählte das nach der Übersiedelung Blochs in den Westen im Jahre 1961 nichts mehr. So hatte ich mir das Parteileben unter Philosophen jedenfalls nicht vorgestellt, und im Prinzip ging das dann in Freiberg am Institut für Gesellschaftswissenschaften, später Sektion Marxismus-Leninismus, so weiter, auch wenn es sich nicht um so große Beträge handelte. Hier bemerkte ich dann eine gewisse Sonderstellung der Philosophen im Kreise der Marxisten-Leninisten, die mir nicht unangenehm war. Philosophen galten auch hier als politisch im Durchschnitt nicht ganz so zuverlässig wie wissenschaftliche Sozialisten und Politökonomen, für bestimmte politische Funktionen nicht so gut zu gebrauchen wie andere, nicht immer prinzipienfest und klassenkämpferisch genug, oft zu tolerant im Umgang mit Andersdenkenden. Gerade mit diesem Image ließ sich aber wiederum auch ganz gut leben - zumindest im Kontakt mit den Angehörigen, den Studenten der Hochschule, die schon damals den etwas frischeren Wind begrüßt haben. Leider habe ich, haben wir Philosophen, diesen Anspruch auf lange Sicht nicht einlösen können. In dem Maße, wie bestimmte Stufen in der Karriereleiter genommen wurden, mußten auf einmal Rücksichten auf Gremien, Leitungsebenen, Personen, ja dann nicht zuletzt auf die eigene Sektion, auf die eigenen Mitarbeiter und auch auf einen selber und die Familie genommen werden. Dabei meine ich heute noch, daß wir immerhin wenigstens bestimmte Spielräume genutzt haben, daß vieles von dem, was wir erzählt haben, richtig war - ob es nun auf oder auch gelegentlich nicht auf der gerade gültigen "Linie" gelegen hat oder nicht.

Aber zurück zum Materialismus bzw. zum Philosophie-Verständnis, wie es im MLG praktiziert werden sollte. Wir haben im "Stalin-Abschnitt" gesehen, daß dialektischer und historischer Materialismus als Verknüpfung eines dialektischen und eines historischen Materialismus gesehen wurde, zweier Teilgebiete also, die freilich - wie immer - eine "Einheit" bilden sollten. Der dialektische Materialismus sollte sich auf die Natur beziehen und die allgemeinen theoretischen und methodologischen Grundlagen liefern; der historische Materialismus sollte diese Grundlagen auf die Gesellschaft anwenden. Daraus ergab sich eine bestimmte Systematik - sowohl für die Theorie als auch dann für den Lehrbetrieb: Nach einem Einleitungskapitel, welches zumeist an Hand von Lenins "Die Quellen und die Bestandteile des Marxismus" die Aufgaben der Philosophie und ihre Stellung im System des Marxismus, das Verhältnis von Politik und Philosophie, ihren Gegenstand, behandelte, folgte der Teil des dialektischen Materialismus, später dann oftmals philosophischer Materialismus genannt - mit den Themen Grundfrage der Philosophie, Materiebegriff und Dialektik. Den sich hieran anschließenden Abschnitt Erkenntnistheorie hätte man, vom Gedanken der zwei Seiten der Grundfrage der Philosophie her, eigentlich in den philosophischen Materialismus einordnen müssen. Aber das wurde nicht so verbissen gesehen. Dann folgte der historische Materialismus, im wesentlichen mit den Teilgebieten materialistische Geschichtsauffassung, Gesetze der Gesellschaft, materielle Produktion, Überbau (Staat, Ideologie), Individuum und Gesellschaft, Freiheit, Wissenschaft, Kunst, Religion. Da immer irgend ein Feiertag dazwischen kam, wurde es gegen Ende zumeist knapp, und gerade hier mußte deshalb des öfteren gekürzt oder gar gestrichen werden. Aber das waren ja auch wiederum die komplizierteren Themen, und so schlecht war das für uns Lehrkräfte also auch wieder nicht. Vorschläge, wie ich sie Mitte der 80er Jahre unterbreitete, die Lehrsystematik doch prinzipiell zu verändern und quasi mit dem "Ende" zu beginnen - zumal die Studenten kurze Zeit zuvor auf den Oberschulen die traditionelle philosophische Systematik schon einmal genossen hatten - wurden abgelehnt. Argument: Die Systematik der marxistischen Philosophie ist ein unverzichtbares Element der weltanschaulichen Wirksamkeit im MLG, und es darf nicht zugelassen werden, daß jeder seine eigene Vorstellung vom Aufbau unserer Philosophie einbringt und damit auch die Einheitlichkeit im Lehrbetrieb aufhebt.
Aber mir war natürlich auch klar, daß eine solche systematische Modifikation grundsätzlichere Probleme im Verhältnis von Politik und Philosophie bestenfalls tangiert, nicht aber gelöst hätte. Es ging in diesen Jahren eigentlich schon gar nicht mehr um Philosophie, sondern die Studenten und Mitarbeiter wollten von uns hören, wann endlich der Kurs der Perestroika auch in der DDR zum Zuge käme. Komplizierte philosophische Erörterungen oder auch Auseinandersetzungen interessierten da schon längst nur noch einen ganz kleinen Kreis von Leuten - eben solche, die sich unter allen Bedingungen für solche Fragen interessieren würden.
Aber wiederum zurück zur Frage der Systematik. Mittlerweile war ich so weit gekommen, die seit Lenin praktizierte und immer auch theoretisch hochgehaltene Form der Systematisierung der marxistischen Philosophie für einen gigantischen Irrtum zu halten. Eugen Dühring hatte drei Bücher (in der uns hier interessierenden Hinsicht) geschrieben: eines über Philosophie, eines über Ökonomie und eines über den Sozialismus. An diese Struktur hielt sich Engels, als er seinen Anti-Dühring schrieb. Lenin machte daraus drei Bestandteile des Marxismus, so daß es ganz normal war, wenn die sowjetischen Herausgeber der zweiten russischen Ausgabe des "Anti-Dühring" erklärten, daß dieses Werk eine wahre Enzyklopädie des Marxismus darstelle, insofern in ihm alle seine Bestandteile allseitig dargelegt würden.(1) Die Behauptung der Herausgeber, Dühring habe alle Bestandteile des Marxismus angegriffen, ist so amüsant wie problematisch, denn es hatte ja überhaupt noch niemand, auch Marx und Engels nicht, den Versuch unternommen, ein im traditionellen Sinne verstandenes Gesamtsystem des Marxismus zu entwickeln. Es konnte also auch noch gar nicht angegriffen werden, und Engels konnte es dann zwar entwickeln, aber nicht verteidigen.
Sei es aber nun wie es ist, diese auf so verzwicktem Wege entstandene Systematik hatte natürlich ihre Probleme, von denen ich im folgenden einige nennen möchte:
1. Die mit der Grundfrage der Philosophie bzw. dem Materiebegriff beginnende systematische Entwicklung der marxistischen Philosophie ähnelt doch sehr der Art und Weise, wie Hegel seine Philosophie in der "Wissenschaft der Logik" aufbaut. Dieser stellt "Sein" an den Anfang, geht dann über"„Wesen" zu "Begriff"; im dialektischen und historischen Materialismus folgen auf den abstrakten Materiebegriff seine Konkretisierungen in der Naturdialektik und im historischen Materialismus. Damit wurde also das theoretische Grundprinzip des Philosophierens bis Hegel gerade nicht überwunden.(2) Die eigentliche Absicht von Marx und Engels wird zurückgenommen, wobei man sich darüber streiten kann, welchen Anteil Engels selber an dieser Sache hat.
2. Die Auffassung vom dialektischen Materialismus als eines Materialismus und einer Dialektik der Natur ist nur scheinbar logisch. Der Mensch als der eigentliche Gegenstand von Philosophie kommt hier also noch gar nicht vor, und Philosophie wird zunächst rein auf Grundlage der Naturwissenschaften betrieben. Marx und Engels sind ja aber ganz anders vorgegangen; zur Naturdialektik kamen sie erst, als sie den historischen Materialismus schon entwickelt hatten. Und selbst wenn der historische Gang der Forschung nicht mit der endgültigen Systematisierung identisch sein muß, so sollte doch m.E. eine philosophische Systematik vom Menschen ausgehen - gerade im Marxismus.
Das Problem wurde natürlich gesehen. Die Diskussionen um die Existenz einer marxistischen Naturphilosophie bzw. einer Dialektik der Natur machte das deutlich. Erstere sollte es eigentlich nicht geben - im Unterschied etwa zu Kant, Hegel und Schelling. Aber Naturdialektik sollte im Selbstverständnis von Engels ja gar keine Philosophie sein, sondern eine "einfache materialistische Weltanschauung", ein "moderner Materialismus", der die neueren Fortschritte der Naturwissenschaft zusammenfaßt und keine über den Wissenschaften stehende Philosophie mehr braucht.(3) Dieser Widerspruch ist m.E. niemals wirklich aufgelöst worden.
3. Die häufig zu beobachtende Auskopplung der Erkenntnistheorie aus dem philosophischen Materialismus ohne dann ja durchaus denkbare Einbindung in den historischen Materialismus hat oftmals zu einer Gegenstandsverzerrung der marxistischen Erkenntnistheorie geführt. Sie geriet oft zu einer Physiologie (z.B. in der Absicht, die materiellen Grundlagen des Bewußtseins deutlich zu machen) oder aber zu einer Wissenschaftstheorie, in der es dann auch schon nicht mehr primär um philosophische Fragen der Erkenntnis ging.
4. Die Verselbständigung des historischen Materialismus zu einem Teilgebiet der marxistischen Philosophie durch Lenin im Sinne einer allgemeinen Soziologie brachte zusätzliche Abgrenzungsprobleme zum wissenschaftlichen Sozialismus bzw. Kommunismus. Viele der von Engels im Anti-Dühring unter "Sozialismus" behandelten Probleme, insbesondere die Analyse der Produktion, aber auch Staat und Familie, wurden später - zumindest auch - als philosophische Themen eingeordnet. Dennoch behaupteten die Autoren des Lehrbuches "Dialektischer und historischer Materialismus" für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium, in der marxistisch-leninistischen Philosophie seien dialektischer und historischer Materialismus zu einer unauflösbaren Einheit verschmolzen.(4) -

M. E. kamen in solchen und anderen ungelösten Systematisierungsfragen der marxistischen Philosophie grundsätzliche theoretische und auch methodologisch-didaktische Probleme zum Vorschein. Man konnte das freilich auch ganz anders sehen; mein erster Chef und Direktor am Institut für Gesellschaftswissenschaften in Freiberg war z.B. der Überzeugung, daß die Reihenfolge, in der die Bestandteile des Marxismus gelehrt werden und die jeweilige interne Systematik gegenüber der Fähigkeit der Lehrkräfte, den Stoff theoretisch ansprechend und politisch überzeugend darzustellen, sekundär seien. Da mag er durchaus recht gehabt haben, ohne daß jedoch das eigentliche Problem damit verschwand.
Dabei kam mir das ganze Unternehmen MLG generell um so problematischer vor, je länger ich dabei war und zum Schluß dann auch noch alles zu leiten und zu verantworten hatte. Der jugendliche Enthusiasmus war längst einer kritischen Reflexion nicht nur der erreichten Ergebnisse, sondern vor allem der Voraussetzungen und Möglichkeiten gewichen. Es waren dabei eigentlich zwei Aspekte, die mich besonders berührten. Zum einen betraf das das Verhältnis von Philosophie und Politik, zum anderen die Frage, wie man eigentlich die Grundlagen einer solch komplexen Disziplin wie der Philosophie unter den konkreten Bedingungen der damaligen Zeit an einer technischen Hochschule lehren soll und kann.
Natürlich waren uns schon früh Gegensätze zwischen marxistischer Philosophie und sozialistischer Politik bzw. SED aufgefallen. Das führte zu kritischer Sicht auf manche politische Entscheidung und umgekehrt zu dem schon angesprochenen Mißtrauen von Parteifunktionären gegenüber uns Philosophen. Aber wir saßen in einem Boot, und ganz verderben wollte es mit dem anderen keiner. Da die grundsätzlicheren Probleme aber kaum diskutiert werden konnten, wurden sie von den meisten verdrängt. Für mich war es aber gerade das Wesentliche an der Philosophie, daß sie sich immer mit dem grundsätzlich Problematischen befaßt, auch und gerade im Sozialismus. Wenn das der Partei zu riskant erschien, dann sollte sie doch lieber auf die Philosophie im MLG verzichten! Wollte oder konnte sie das "vor der Welt" nicht tun, dann hatte sie die Konsequenzen mit zu tragen. Auf alle Fälle hätte sie sich von der völlig unkritischen Sicht auf das Verhältnis von Politik und Philosophie selber lösen müssen. Solche allen Ernstes in den Einleitungen von Lehrprogrammen u.ä. vorkommenden Behauptungen, daß die Politik der Partei gerade deshalb wissenschaftlich und richtig sei, weil sie sich auf den philosophischen Materialismus mit dessen Forderung, die Welt zu nehmen wie sie ist und deren Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, stütze, wären ja schon alleine zehn Vorlesungen wert gewesen. Als ob es die einfachste Sache von der Welt wäre, die Welt so zu nehmen, wie sie ist - und nicht etwa die Wunschträume alter Männer zur Voraussetzung der Politik zu machen! Als ob wir genau wüßten, in welcher Weise der Gang der Geschichte durch Gesetzmäßigkeiten bestimmt wird, aus deren Erkenntnis dann strategische Konzepte abgeleitet werden können! Als ob Klarheit darüber in der Philosophie bestünde, ob überhaupt aus Aussagen über die Wirklichkeit auf wissenschaftlichem Wege Normen und Strategien menschlichen Handelns gefolgert werden können! Als ob wir überhaupt genau wissen, welche Rolle materielle Bedürfnisse im Verhältnis zu geistigen Komponenten im menschlichen Handeln spielen! Als ob wir auch nur annähernd gewußt hätten, wie wir den Kapitalismus in der Arbeitsproduktivität überholen sollten, als ob wir praktikable Modelle für die Lösung des Demokratieproblems oder der nationalen Frage in Deutschland besessen hätten! Die Reihe kann fortgesetzt werden - überall offene, nicht nur praktische, sondern auch theoretische Probleme. Und da sollte man ein Grundlagenstudium machen können?
Nicht erst in der letzten Zeit vor der Wende hat mich das Problem beschäftigt, ob sich nicht unsere Philosophie generell in einer Krise befand? Einmal weil sie auf eine Fülle von Fragen keine Antwort wußte, zum anderen weil sie die Welt nicht davor bewahrt hatte, ihrerseits in eine gewaltige Krise hineinzugeraten. Wenn es nach Marx darauf an kam, die Welt zu verändern (ob nun durch die Philosophen oder ohne sie), dann war doch schon vor geraumer Zeit deutlich geworden, daß hier ein gewaltiges Versagen gerade auch der marxistischen Philosophie vorlag. Wie es sich für eine richtige Wissenschaft gehört, hätte sie dann auch von Zeit zu Zeit in eine Krise geraten müssen und wenigstens - denken wir an Engels - ihre Form ändern müssen. Der Inhalt hätte dabei natürlich nicht außen vor bleiben können.
Weder die Partei noch die Mehrheit der marxistischen Philosophen haben dies so scharf gesehen, wobei die üblichen Floskeln von der ständigen Weiterentwicklung der marxistischen Philosophie dann eben auch bloß noch Opium fürs Volk waren. Wenn die Begriffe von Materialismus und Idealismus heute noch Sinn haben, dann waren also die meisten marxistischen Philosophen selber Idealisten. Ob man Nicht-Philosophen, wie z.B. Kreissekretäre der SED, mit einem solchen Titel bedenken durfte, wäre ebenfalls eine interessante Frage gewesen; auf alle Fälle hätte man ihnen eine weitgehend vom "Idealismus" beeinflußte Weltanschauung, was hier hätte heißen müssen: reaktionär, konservativ, subjektivistisch, die Gesetze der Welt und die materiellen Bedürfnisse der Menschen ignorierend, zuschreiben können.
So weit waren wir also zum Schluß gekommen. Eigene Forschungsarbeit zur Materialismus-Problematik, aber auch zur Frage einer möglichen Existenz verschiedener materialistischer philosophischer Konzepte, womit zumindest erst einmal jener Kurzschluß von einem philosophischen Konzept auf eine Politik und umgekehrt vom Tisch gewesen wäre, haben bei mir zu einer solchen kritischen Sicht auf uns selber beigetragen. Aber es waren das natürlich auch wieder hochinteressante Dinge, die, unter den konkreten Bedingungen der DDR angepackt, spannender als ein Krimi sein mußten. "Leider" war aber auch vieles von dem, was einem da durch den Kopf ging, schon woanders ge- und bedacht worden. Daß es sich bei diesen Leuten durchweg um Revisionisten handeln sollte, machte die Sache nicht leichter, sondern hochgefährlich. Der Anstand gebietet es, einige dieser Fragestellungen aus der Sicht von Marxisten, die zumeist nicht in sozialistischen Ländern lebten, im letzten Abschnitt wenigstens kurz zu würdigen.

Literatur:

1) vgl. Friedrich Engels: Anti-Dühring. In: Marx/Engels-Werke Band 20, S.VIII
2) vgl. dazu auch W. F. Haug: Für eine materialistisch-dialektische Begründung des dialektischen Materialismus. In: Die Wissenschaft der Erkenntnis und die Erkenntnis der Wissenschaft. Stuttgart 1978, S.48ff.
3) F.Engels: Anti-Dühring. A.a.O., S. 24
4) Dialektischer und historischer Materialismus. Dietz Verlag   Berlin  15. überarbeitete Auflage, 1988, S.35