Philosophie in der DDR

(Frank Richter, Freiberg)
 

Abschnitt 4:  Die Kritik Hegels am Materialismus
Seit Hegel scheint die Alternative Materialismus-Idealismus überholt zu sein.
Warum dennoch einige an ihr festhalten.
 

Zimmerlis Hegel-Rezeption von 1976

Natürlich hat sich auch Hegel mit dem Verhältnis von Materialismus und Idealismus beschäftigt und verschiedene Philosophien zu klassifizieren gesucht. Allerdings taucht der Materialismusbegriff dabei strenggenommen gar nicht auf; aber wenn er über den Empirismus der englischen und französischen Materialisten spricht, geht es genau um jene philosophischen Richtungen, die im Marxismus als Materialismus bezeichnet wurden - also z.B. um Holbach oder Francis Bacon. Hegel hielt eine empiristische bzw. materialistische Philosophie für unmöglich; jede wirkliche Philosophie sei Idealismus. Empirismus bzw. Materialismus wären dann also eher Ausdruck einer (einzel)-wissenschaftlichen Betrachtung der Welt, in welcher die eigentliche Qualität der Philosophie, zum Selbstbewußtsein der absoluten Idee werden zu können, weder erreicht werden kann noch erreicht werden soll.
Im Bestreben, die Grundfrageproblematik weiter zu verfolgen, stieß ich auf die Materialien des XI. Internationalen Hegel-Kongresses von 1976 zum Thema "Idee und Materie". Der Vorsitzende der diesen Kongreß organisierenden Hegelgesellschaft W. R. Beyer nannte im Vorwort dieses Jahrbuches als eines der zentralen Probleme dieser Tagung die Frage, „ob nicht die traditionelle Polstellung von Idee zu Materie zugunsten einer moderneren Sicht aufgelockert werden müsse, ob nicht solcher Dualismus als überwindbar gelten könne und ob sich nicht vollkommen andere Denkansätze bilden, die ohne ein (billiges) Konvergieren der Deutungen originäre Positionen für das Bedenken dieser Komplexe bereitzustellen vermögen"(1). Besonders interessierte mich in diesem Band ein Aufsatz von Walther Zimmerli, den der Autor heute jedoch eher als eine seiner Jugendsünden gewertet wissen möchte: Als erwachsener Mensch gibt man sich nicht mehr mit solchen Fragen ab... Manche Leute werden aber offensichtlich niemals erwachsen, und so versuchte ich damals, die Auffassung Zimmerlis in einem Aufsatz für die Deutsche Zeitschrift für Philosophie zu diskutieren und zu kritisieren. Die Veröffentlichung des Artikels wurde u.a. mit der Begründung abgelehnt, ich hätte mich mit Zimmerli nicht prinzipiell genug auseinandergesetzt. Auch heute noch halte ich die 1976 von Zimmerli an Hegel entwickelte Kritik der Grundfrage-Problematik für relevant, andererseits sehe ich das Problem damit aber immer noch nicht für erledigt an.

Insofern kann man heute an dieser Stelle noch einmal ansetzen. Das will ich im folgenden tun. Zimmerlis Position lief m. E. auf folgende Thesen hinaus:
1. Das Begriffspaar Materialismus-Idealismus stellt heute auf der Theorieebene nicht mehr eine Alternative im Sinn einer ausschließenden Disjunktion von Reflexionsbegriffen dar. Über die Freund-Feindbildkonstitution hinaus kommt dieser Gegenüberstellung heute nur noch die Bedeutung umgangssprachlicher Kennzeichnung und allenfalls theoriehistorischer Klassifikation zu.(2) Die Irrelevanz dieser Disjunktion auf Theorieebene habe sich allerdings erst historisch ergeben; im 18. Jahrhundert spielte sie eine wesentliche Rolle und darauf gründe sich auch die materialistische Konzeption von Materialismus und Idealismus. Mittlerweile sei jedoch ein theoretischer Bedeutungsschwund dieser Alternative eingetreten.
2. Die Materialismus-Idealismus-Alternative geht in der Aufklärungsphilosophie von dem cartesianisch geprägten Körper-Seele-Problem aus.(3) Zwar biete dieser hierauf begründete Materialismus der Franzosen und Engländer Theorieneuland für die sich entwickelnden Naturwissenschaften, andererseits verweise der in der deutschen Philosophie dominierende Idealismus zu Recht darauf, daß dem damaligen Materialismus die Bewegung und die qualitative Differenz von mechanizistisch aufgefaßtem Natur-Sein und Denken unzugänglich seien. Zimmerli erörtert dabei die Argumente von A. Weishaupt aus dem Jahre 1787 gegen den Materialismus, die er für zwingend hält.(4) Dabei geht es also im wesentlichen um die Frage, ob und wie das Bewußtsein auf die körperliche Materie einwirken kann.
3. Hegels Position in der Materialismus-Idealismus-Alternative unterläuft diese bereits in einem solchen Maße, daß nicht mehr plausibel ist, wie sie weiterhin als sinnvolle theoretische Begriffsgegenüberstellung soll bestehen bleiben können. So bekämpfe denn auch weder die Feuerbachsche Kritik noch deren Marxsche Weiterführung den Hegelschen Ansatz allein aufgrund seines Idealismus, sondern aufgrund vermeintlicher anderer theoretischer Defizite, deren Eingeständnis die Materialismus-Idealismus-Alternative nicht tangiert. Engels’ Grundfrage der Philosophie führt nun aber die systematische Äquivokation im Begriffspaar Materialismus-Idealismus herauf, die von Stund an die Geschichte dieser Alternative prägen wird. Mit der Mehrdeutigkeit, später gar Vertauschbarkeit dieser Termini verschwand ihre ein-eindeutige semantische Zuordnung zu ihren Bedeutungen und damit auch die Bedeutung der Alternative selbst.(5)

    Also nicht Starcke mit seiner Darstellung der Feuerbachschen Philosophie, sondern Engels ist schuldig an dieser Äquivokation?! Dazu werde ich mich noch äußern. Auch ist zu analysieren, ob es zutrifft, daß "Engels bei seiner Formulierung der Materialismus-Idealismus-Alternative kein neues Bestimmungsstück dazubringt, außer, daß er die Klassifikationsmuster und ehemals gerechtfertigten Abgrenzungstermini wieder auf ihr vor-Hegelsches Bedeutungsniveau zurückversetzt, um mit ihnen unterschiedslos alle Philosophen zu klassifizieren" (6). Die Charakterisierung der Philosophie des Machismus (7) als Idealismus durch Lenin betrachtet Zimmerli als Äquivokation: "Somit wäre die neopositivistische Richtung idealistisch, es gäbe gar keinen Materialismus Russells oder heute der ‘mind-brain-identity’-Theorie?" (8) Die Alternative Materialismus-Idealismus werde demzufolge von den dialektischen Materialisten selber aufgeweicht.
4.  Der Bedeutungsschwund der Materialismus-Idealismus-Alternative in philosophischen Theoriezusammenhängen reiche bis in unsere Gegenwart hinein und manifestiere sich hier als Unmöglichkeit, ein prinzipienmonistisches oder materialistisches System in konsistenter Weise zu entwickeln, das zudem den Postulaten der allgemeinen Gültigkeit und der Identität von Prinzip und Ableitungsregel entspricht.
Hier werden also wissenschaftstheoretische Aspekte angesprochen und auf Philosophie angewendet, wobei in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer semantisch noch intakten Alternative geprüft werden soll. Materialismus und Idealismus wären dann Bezeichnungen für Theorien, wobei gelten würde:
    · Theorien sind oberste strukturierte, regelgeleitete Konstrukte zum Zweck der Aufstellung und Formulierung von Annahmen über die Wirklichkeit
    · Materialismus und Idealismus beanspruchen im Unterschied zu physikalischen u.a. Theorien universell-generelle Gültigkeit, d.h. der Argumentbereich umfaßt zumindest tendenziell alle Gegenstände der Welt
    · Beide Theorien wollen mit nur einem Prinzip, einer Anfangsfigur, einem Axiom auskommen, aus dem alles abgeleitet wird, letztlich auch es selbst
    - Beide Theorien verzichten auf Ableitungsregeln, denn sonst müßte ja wieder ein zweites, regelgebendes Prinzip angenommen werden; eine solche Annahme sprengt aber den intendierten Monismus.(9)
5. Als Ausweg bietet Zimmerli schließlich an: Da sich ein absolut monistisches System bei dem veränderten Wissenstand und dem herrschenden Methodenpluralismus unserer Zeit gegenüber der Zeit Hegels per definitionem nicht mehr formulieren lasse, bleibe nur eine Reduktion des Hegelschen Programms als Ansatzpunkt, eine Reduktion, die es erlaube, ohne Prinzipienmonismus-Zwang eine universalistische dialektische Realphilosophie auf dem durch eine durchgeführte Bewußtseinsgestalten-Phänomenologie gelegten Fundament zu errichten. Bis dahin sollte man angesichts der fast völlig geschwundenen Bedeutung der Begriffsalternative Materialismus-Idealismus diese beiden Begriffe sowohl in der Theoriediskussion wie in theoriehistorischer Klassifikation vermeiden. Dabei versteht Zimmerli die Marxsche Theorie als eine Ausarbeitung und Weiterführung der Hegelschen Theorie mit anderen Mitteln. Er möchte erstere von ihren mannigfaltigen Entartungen trennen und sie keinesfalls in Relation zu Hegel in eine Freund-Feind-Schablone stecken.-

Gibt es also überhaupt noch eine Chance für den Materialismus?

Es geht jetzt auch hier nicht mehr einfach nur um Ungereimtheiten, Mängel und Fehler bei der Behandlung der Materialismustheorie, sondern um die Möglichkeit einer solchen Theorie überhaupt. Die anfangs schon einmal gestellte Frage, ob es dann nicht doch einfach besser ist, auf diesen belasteten Begriff zu verzichten, läßt sich jetzt weiter konkretisieren:
· Was könnten wir Materialisten Hegel entgegensetzen, um seinen Einwand zu entkräften, alle Philosophie sei Idealismus? Verwechselt nicht Hegel selber zwei verschiedene Ebenen miteinander, wenn er die unbestreitbare Tatsache, daß es alle Philosophien mit Begriffen zu tun haben, mit dem möglicherweise irreführenden Begriff Idealismus belegt und damit denkbare Differenzierungen bei der Behandlung des Verhältnisses von Geist und Materie, die dann die Bezeichnungen Materialismus und Idealismus verdienen, ausschließt?
· Wie wollen wir uns Engels gegenüber verhalten, der einmal - und das ganz sicher im Sinne von Marx - das Ende der Philosophie verkündet (womit dann allerdings auch eine Grundfrage der Philosophie erledigt wäre), zum anderen aber die Philosophie Feuerbachs als materialistische verteidigt und damit zwangsläufig den Eindruck erweckt, er vertrete selber eine materialistische Philosophie? Ist möglicherweise jenes Ende der Philosophie zu früh prognostiziert worden - was dann bestimmt auch an den Wissenschaften und dem Alltagsdenken liegen würde, die offensichtlich auf ein Verschwinden bzw. Aufnehmen der Philosophie noch gar nicht vorbereitet waren und dies wohl auch heute noch nicht sind?
· Läßt sich noch einmal über den Materiebegriff diskutieren und können wir bestimmte Aspekte der Leninschen Bestimmung dieses Begriffs kritisieren, ohne nun gleich Lenin alle Attribute eines Philosophen abzusprechen? Möglicherweise hängen die bisherigen Kritiken des Materialismus damit zusammen, daß auch die Kritiker einen mechanistischen Materiebegriff verwenden und damit einen längst überholten Materialismus angreifen? Ist es aber vielleicht Lenin und seinen Anhängern gar nicht oder nicht im erforderlichen Maße gelungen, die Materialismustheorie so weiterzuentwickeln, daß sie den neuen Stürmen standhält?
· Welche Verzerrungen und Ansammlungen ungelöster neuer Probleme sind durch die stalinistische Kanonisierung philosophischer Lehrsätze entstanden, die auch nach 1956 nicht auf- und abgearbeitet worden sind und die uns immer noch einen mehr oder weniger "dummen" Materialismus vertreten ließen?
· Schließlich wäre auch zu bedenken, ob eine wissenschaftstheoretische Analyse, wie sie Zimmerli vorschlug, wirklich etwas einbringt. Ist Philosophie tatsächlich eine Wissenschaft, die sich dann auch noch von jeglicher Ideologie freihalten läßt? Oder ist Philosophie nicht vielmehr eine ständige Grenzüberschreitung, die zwischen den Bereichen des Alltags, der Wissenschaft, der Theologie, der Kunst zu vermitteln hat, und die man deshalb zumindest nicht nur auf ihre Wissenschaftlichkeit hin befragen darf?

Hegel selber zu diesem Thema

Man muß an dieser Stelle Hegel noch einmal selbst zu Worte kommen lassen, weil er für unser Thema eine wichtige Differenzierung vornimmt: Er unterscheidet in der Geschichte des philosophischen Denkens drei Stellungen des Gedankens zum Thema der Objektivität:  Einmal das noch weitgehend unreflektierte Akzeptieren einer bewußtseinsunabhängigen Außenwelt (Objekt); dann die gewonnene Überzeugung, daß jede Erkenntnis an menschliche Erfahrung gebunden ist und eine streng objektive Erkenntnis eigentlich unmöglich ist (Empirismus, aber auch Kant); drittens die Auffassung von Hegel selber, die für sich den Anspruch erhebt, Subjektivität und Objektivität, Idee und Sein wirklich als Einheit zu fassen und die bisher übliche Dualität in den begrifflichen Bestimmungen zu überwinden. (10)
Selbst wenn man sich darüber sehr streiten kann, ob Hegel dies tatsächlich gelungen ist bzw. ob es möglich ist, durch ein "vom Kopf auf die Füße Stellen" Hegels das Rationelle an solcher Dialektik in den Materialismus hinüberzutransformieren, so ist aber die Bestimmung der ersten beiden Stufen sicher sinnvoll: In der ersten finden sich der naive Alltagsverstand, aber auch der naive Realismus und Materialismus; Engels und ganz sicher Lenin möchte ich hier einordnen. Auch die zweite Form, die glaubt, nur die Erscheinung der Dinge, nicht aber deren Wahrheit, deren Wesen erfassen zu können, kommt in der Geschichte sehr häufig vor (Hume, Kant; Positivismus). Die von Hegel angestrebte Synthese beider Extrempositionen ist möglicherweise aber noch nicht gefunden - man könnte sogar die Hypothese wagen, daß dies die ewige Aufgabe der Philosophie bleiben wird. Dann hätte also auch Hegel die Wahrheit noch nicht eingestrichen; ob der dialektische und historische Materialismus sie in Besitz hat, kann nach dem oben Gesagten mit Fug und Recht auch bezweifelt werden. Das wäre also auch gar nicht so schlimm gewesen, wenn nur nicht ständig das Gegenteils behauptet worden wäre.
Insofern ist es klar, daß auch nach Marx, Engels und Lenin die Bemühungen um einen weiterentwickelten Materialismus nicht aufhörten. Aber zunächst sind die genannten großen Drei, und dann noch ein Vierter an der Reihe..

Literatur:

1) W. R. Beyer: Vorwort zum Hegel-Jahrbuch 1976, Köln 1978, S.9
2) W. Ch. Zimmerli: Materialismus und Idealismus. Eine undifferenzierte Alternative. In: Hegel-Jahrbuch 1976, a.a.O., S.149/150
3) ebenda S.155
4) Es geht dabei im wesentlichen um die Frage, wie der Materialismus - bei vorausgesetzter Polarität von Materie und Geist - erklären soll, daß die Materie bzw. ein Teil von ihr denken kann. Wenn Materie teilbar ist, das Denken aber nicht, so sei Materie als denkende nur vorstellbar, wenn sie aus Teilen besteht, die keine weiteren Teile enthalten, und insofern also immateriell sind. Das widerspreche jedoch dem materialistischen Grundprinzip.
5) Zimmerli, ebenda S.162
6) ebenda S.161
7) Ernst Mach interpretierte die Erkenntnisprobleme beim Übergang von der Makro- zur Mikrophysik, also zur Welt der Atome und Elektronen, philosophisch als Unmöglichkeit, hier von Materie im Sinne von objektiver Realität zu sprechen - ganz im Gegensatz etwa zu seinem Kollegen Ludwig Boltzmann
8) Zimmerli, ebenda S.163
9) ebenda S.164
10) G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Akademie Verlag Berlin 1966, S.56


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