Philosophie in der DDR

(Frank Richter, Freiberg)

Abschnitt 6: Friedrich Engels Bestimmung der Grundfrage der Philosophie
 

Wir kommen nun endlich zu jenem Abschnitt, in dem wir der eigentlichen Formulierung der Grundfrage der Philosophie auf den Grund gehen wollen - zunächst wie sie original von Engels gegeben worden ist. Dem Problem selber sind wir schon mehrfach begegnet, so u.a. bei dem Theologen Richard Schröder und dem Philosophen Walther Zimmerli, die jeweils von ihrem Gegenstand her an der „Grundfrage der Philosophie" keinen guten Fetzen gelassen haben. Auch in der Geschichte der DDR-Philosophie ist dieses Thema schon relativ früh intensiv debattiert worden - natürlich zumeist in der Auseinandersetzung mit einem „idealistischen" Philosophen oder Theologen, auch wenn sich diese, wie z. B. der Jesuitenpater Gustav Wetter, nicht als Idealisten einschätzen lassen wollten. Es war vor allem Georg Klaus, der in den fünfziger Jahren mit „Jesuiten - Gott -  Materie. Des Jesuitenpaters Wetter Revolte wider Vernunft und Wissenschaft" die Stoßrichtung und die Struktur der Auseinandersetzung für lange Zeit prägte und Maßstäbe setzte, die nur schwer zu umgehen waren. Dabei knüpfte er im wesentlichen an Lenin an.
Aber zunächst soll wiederum Engels selber zu Worte kommen, so weit das hier möglich ist. Der Anlaß für die Schrift „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie" war das Erscheinen eines Buches von C. N. Starcke über Ludwig Feuerbach im Jahre 1885 in Stuttgart bei Ferdinand Encke. Von der Redaktion der „Neuen Zeit" um eine Rezension gebeten, sah sich Engels noch einmal das gemeinsam mit Marx verfaßte und bis dahin unveröffentlichte Manuskript zur „Deutschen Ideologie" an, entdeckte dabei die Marxschen Feuerbach-Thesen und entschloß sich, eine zusammenhängende Darlegung „unseres Verhältnisses zur Hegelschen Philosophie" zu verfassen und gleichzeitig die in jenem Manuskript nicht zu Ende geführte Auseinandersetzung, aber auch Würdigung des nachhegelschen Philosophen Feuerbach nachzuholen. Die in Heft 4 und 5 der Neuen Zeit von 1886 erschienene Rezension erfuhr dann 1888 einen revidierten Sonderabdruck.
Engels stellt zunächst die Hegelsche Philosophie in jener Zweideutigkeit dar, die sie sowohl als revolutionäre Philosophie in Deutschland, aber auch als preußische Staatsphilosophie gelten läßt. In der Diskussion des Hegelschen Satzes „Was vernünftig ist, ist wirklich, und was wirklich ist, ist vernünftig" zeigt Engels, daß für Hegel Vernünftigkeit und Wirklichkeit nicht ein- und für allemal feststehen, sondern in Unvernunft und Unwirklichkeit umschlagen können. Kurz gesagt: Was heute noch wahr ist, kann morgen schon falsch sein. Goethe hatte seinerzeit formuliert: Alles was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht.- Dieser revolutionäre Gedanke, so meint Engels, sei leider von Hegel in seiner eigenen Philosophie nicht konsequent zu Ende gedacht und  umgesetzt worden. Dessen idealistisches System führte vielmehr zu einem Konzept des absoluten Wissen, einer absoluten Wahrheit, so daß dann auch der Prozeß der Entwicklung eben an dieser Stelle, nämlich in dem Moment, wo die Hegelschen Philosophie selber hervorgebracht worden war, aufhören mußte. Aber „mit Hegel schließt die Philosophie überhaupt ab; einerseits weil er ihre ganze Entwicklung in seinem System in der großartigsten Weise zusammenfaßt, andrerseits weil er uns, wenn auch unbewußt, den Weg zeigt aus diesem Labyrinth der Systeme zur wirklichen positiven Erkenntnis der Welt".(1) Jenen Weg zeigt uns das dialektische Denken, das allerdings bei Hegel noch ganz im Bannkreis des Begrifflich-Geistigen gefangen sei. Neue, konkretere Begriffsinhalte entstehen durch Reflexion von Begriffen aufeinander, wodurch diese zugleich ihre absolute Entgegensetzung (etwa im Fall von Notwendigkeit und Freiheit) verlieren und den Übergang zu neuen Bestimmungen ermöglichen. Hieraus entsteht schließlich jenes riesige Hegelsche System, das dem Nicht-Philosophen in der Regel völlig unverständlich ist, und in dem auch Philosophen oft nur mit Mühe unter der Systemhülle den dialektischen Kern entdecken können.
Da sei Feuerbachs „Wesen des Christentums" gekommen. Mit einem Schlag  erhob es den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron: „Die Natur existiert unabhängig von aller Philosophie; sie ist die Grundlage, auf der wir Menschen, selbst Naturprodukte, erwachsen sind; außer der Natur und den Menschen existiert nichts, und die höhern Wesen, die unsere religiöse Phantasie erschuf, sind nur die phantastische Rückspiegelung unsers eignen Wesens...- Man muß die befreiende Wirkung dieses Buches selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen... Wir waren alle momentan Feuerbachianer."(2)
Natürlich erkannten Marx und Engels auch sofort die ihrer Meinung nach existierenden Schwächen des Konzeptes von Feuerbach  - insbesondere der Gedanke, an die Stelle einer Emanzipation des Proletariats durch die ökonomische Umgestaltung die Befreiung der Menschheit durch die Liebe setzen zu können. Hier fallen sofort Parallelen zu den Zeiten „sexueller Befreiung der Menschheit" in unserem Jahrhundert ins Auge. Da wie dort der Versuch, die Liebe zwischen den Menschen als die neue Religion zu begreifen und auf einem solchen sanften Wege den vielleicht sogar wirklich irreführenden Klassenkampf zu vermeiden. Bereits der sog. „wahre Sozialismus" Karl Grüns in Deutschland knüpfte an Feuerbach an, und schon Marx und Engels hatten ihre liebe Not mit ihm.
Schwach bei Feuerbach war auch, daß er die Hegelsche Philosophie und Dialektik einfach über Bord warf, anstatt sie gründlich aufzuarbeiten und positiv aufzuheben. Engels betont, daß man mit einer Philosophie jedoch nicht dadurch fertig wird, in dem man sie einfach für falsch erklärt - was wiederum auch von seinen Nachfolgern gar zu schnell vergessen worden ist. Die Form kritisch vernichten, den neuen Inhalt aber retten, das ist Engels’ Devise. Auch wenn mir der von Engels dabei verwendete methodologische Ansatz Form/Inhalt zu anspruchslos erscheint - als ob man in der Philosophie so einfach Form und Inhalt trennen könnte, so ist damit aber immerhin wenigstens eine provisorische Basis dafür geschaffen, einen Dialog zwischen „feindlichen" philosophischen Systemen führen zu können. Und dieser muß auch und insbesondere zwischen Materialismus und Idealismus möglich sein, wenn es denn Sinn hat, die Philosophie in diese beiden Gruppen zu gliedern.
Für Engels hat sie einen Sinn, und so spricht er gleich zu Beginn des 2. Kapitels von der großen Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie als der Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein. Nicht das religiöse Trostbedürfnis, sondern die „Verlegenheit, was mit der einmal angenommenen Seele, nach dem Tode des Körpers, anzufangen, führte allgemein zu der langweiligen Einbildung von der persönlichen Unsterblichkeit. Auf ganz ähnlichem Wege entstanden, durch Personifikation der Naturmächte, die ersten Götter..."(3) Nachdem Engels - nicht unproblematisch, wie wir sogleich sehen werden - die Beziehungen Denken/Sein und Geist/Natur offenbar identifiziert und die Wurzel für die Fragestellung überhaupt in den „bornierten und unwissenden Vorstellungen des Wildheitszustandes" zu erkennen glaubt, betont er: „Aber in ihrer vollen Schärfe konnte sie erst gestellt werden, ihre ganze Bedeutung konnte sie erst erlangen, als die europäische Menschheit aus dem langen Winterschlaf des christlichen Mittelalters erwachte. Die Frage nach der Stellung des Denkens zum Sein, die übrigens auch in der Scholastik des Mittelalters ihre große Rolle gespielt, die Frage: Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur? - diese Frage spitzte sich, der Kirche gegenüber, dahin zu: Hat Gott die Welt geschaffen, oder ist die Welt von Ewigkeit da?"(4)
Der Streit um die Ursprünglichkeit - entweder des Geistes oder der Natur - habe die Philosophie in zwei große Lager gespalten, in Idealismus bzw. Materialismus. „Etwas anderes als dies bedeuten die beiden Ausdrücke: Idealismus und Materialismus ursprünglich nicht, und in einem andern Sinne werden sie hier auch nicht gebraucht. Welche Verwirrung entsteht, wenn man etwas andres in sie hineinträgt, werden wir unten sehen."(5)
Jene Verwirrung entstehe, wenn man Materialismus und Idealismus als moralische Haltungen auffaßt. Engels polemisiert gegen Starcke, der Feuerbach für einen Idealisten hält, da jener sich in seinem Konzept vom Menschen von bestimmten Idealen leiten lasse. Für Engels ist es jedoch sonnenklar, daß auch ein Materialist Ideale haben und an den Fortschritt des Menschengeschlechts glauben könne.(6)
Die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein habe jedoch noch eine andere Seite: Wie verhalten sich unsere Gedanken über die uns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser Denken imstande, die wirkliche Welt zu erkennen, vermögen wir in unseren Vorstellungen und Begriffen von der wirklichen Welt ein richtiges Spiegelbild der Wirklichkeit zu erzeugen?(7) Ist man Dialektiker - denkt man bei der Einheit auch immer gleich den Gegensatz mit, kann man dann von einer Identität von Denken und Sein sprechen.
Zu den Philosophen, die diese Frage bejahen, rechnet Engels Hegel, der immer die Identität von Denken  und Sein behauptet habe, zu den anderen Hume und Kant. Dabei sei doch aber offensichtlich, daß die Praxis, nämlich Experiment und Industrie, letztere philosophische Schrullen längst schlagend widerlegt habe. In Polemik mit Kant, der zwar ein subjektunabhängiges Sein anerkannt, dieses aber für unerkennbar gehalten hat und ein Erkennen nur der Erscheinungswelt, der Dinge für uns, niemals jedoch der Dinge an sich philosophisch zu begründen für möglich hielt, glaubt Engels, daß im Experiment ein Übergang der Dinge an sich in Dinge für uns stattfinde: „Wenn wir die Richtigkeit unserer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen können, indem wir ihn selbst machen, ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unsern Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem Kantschen unfaßbaren „Ding an sich" zu Ende."(8) Die Wiederbelebung der Kantschen Ideen durch die Neukantianer hält Engels für einen wissenschaftlichen Rückschritt bzw. „praktisch nur eine verschämte Weise, den Materialismus hinterrücks zu akzeptieren und vor der Welt zu verleugnen". Lenin wird letzteres dann ganz anders sehen: Die Neukantianer hätten Kant nicht nur wiederbelebt, sondern bei dieser Gelegenheit von „rechts" kritisiert und das, was Kant dem Materialismus ein Stück näher gebracht hatte, das Ding an sich, endlich aus der Kantschen Philosophie auch noch zu entfernen gesucht.(9)
Im folgenden analysiert Engels eine bestimmte Entwicklungsstufe des Materialismus, den des „vorigen Jahrhunderts", der vorwiegend mechanisch war - also wesentliche Begriffe der Mechanik wie Masse und Bewegung im Sinne von Ortsveränderung übernahm, der noch unfähig war, die Welt als einen Prozeß, als Entwicklungs-zusammenhang zu begreifen und der dieselbe unhistorische Auffassung auch auf die Geschichte übertrug. Engels hat volles Verständnis dafür, daß sich Feuerbach für einen solchen Materialismus nur „rückwärts" und nicht auch „vorwärts", auf den Menschen und seine Geschichte bezogen, entscheiden konnte. Materialismus ist nicht gleich Materialismus; der flache, vulgarisierte und vulgarisierende mechanistische Materialismus eines Büchner, Vogt und Moleschott entspricht dem Wissensstand des 18., und nicht mehr dem des 19. Jahrhunderts. Mit jeder epochemachenden Entdeckung schon auf naturwissenschaftlichem Gebiet muß er seine Form ändern, und seitdem die Geschichte einer materialistischen Behandlung unterzogen werden kann, eröffnen sich auch hier neue Bahnen der Entwicklung.(10)
Ich will an dieser Stelle die Wiedergabe der Auffassung von Friedrich Engels zur Grundfrage der Philosophie abbrechen und nachfolgend auf einige Probleme aufmerksam machen, die mit diesen Darlegungen verbunden sind und die seitdem zu den anfangs schon genannten Diskussionen geführt haben:

1. Zunächst fällt auf, daß Engels die Grundfrageproblematik in der Philosophie zunächst auf zwei Aspekte, und dann anscheinend nur noch auf einen Gesichtspunkt reduziert. Geht es zunächst um zwei Seiten, das Problem der Ursprünglichkeit von Geist oder Natur, Denken oder Sein, und um die Abbildproblematik, so verkürzt sich dieses Problem für den Fall, daß Gott oder Götter nur Phantasieprodukte des menschlichen Gehirns sind, auf die Frage, ob der menschliche Geist die ihn umgebende Natur richtig widerspiegelt. Aus der Grundfrage der Philosophie wird also eine erkenntnistheoretische Fragestellung, und man kann dann doch zu Recht fragen, ob sich eine Philosophie in der Hauptsache nicht doch sozialen oder moralischen Themen zuwenden sollte.

2. Engels scheint selbst zu merken, daß es mit der Anerkennung der Bedeutung dieser Fragestellungen für die Philosophen über die gesamte Geschichte der Philosophie hinweg Schwierigkeiten gibt. Er spricht deshalb speziell von der neueren Philosophie, die wohl von Descartes ab zu datieren ist, weil von hier an der Gegensatz von Geist und Körper erstmalig ganz klar herausgearbeitet worden ist. Einen solchen klaren Gegensatz gibt es z. B. für die indische, die chinesische und auch für die griechische Philosophie nicht; „maya", „dau" oder „kosmos" sperren sich gegen eine Materialismus-Idealismus-Schematisierung. Kosmos ist nicht einfach das Weltall, sondern zugleich die in dieser Welt herrschende Ordnung, das Prinzip dieser Ordnung und damit zugleich Idee, Gestalt. Alles ist belebt, beseelt, Idee - aber auch wiederum Materie, Körper, Sinnlichkeit.- Engels ist aber offensichtlich insofern im Recht, als zumindest die europäische Philosophie eine philosophische Sprache herausgebildet hat, die immer mehr in dualen, polaren Koordinaten fixiert wird und den Antagonismus der Einheit vorzieht. Freilich versuchen die meisten Philosophen, diesen Gegensatz in ihrem jeweiligen System zu mildern oder gar aufzuheben. Hegel und Kant sind Beispiele dafür, so daß es dann schon wieder fraglich wird, ob eine Zweiteilung der Philosophie noch sinnvoll ist - wenn damit nicht politische Ziele verfolgt werden sollen. Die Redeweise von zwei Lagern erhellt diesen Zusammenhang, der dann von Lenin endgültig als ein für Philosophie nicht nur theoretisch bedeutsamer, wichtiger, sondern sogar entscheidender, moderne Philosophie erst konstituierender verstanden wird.
Selbst wenn man von dieser Zweiteilung der Philosophie absehen wollte, bliebe also immer noch die Möglichkeit übrig, die Beziehung von Materialismus und Idealismus als einen inneren, alle speziellen philosophischen Systeme konstituierenden Widerspruch aufzufassen (vgl. den Satz von Lenin: Kant schwankt zwischen Materialismus und Idealismus), und die äußere Gegenüberstellung von materialistischen und idealistischen Systemen als einen nur zeitweiligen, auf eine bestimmte Epoche der Philosophiegeschichte beschränkten Zustand zu verstehen. Solche Konzepte gibt es längst.

3. Die von Engels vorgenommene Gleichsetzung der Beziehungen von Geist und Natur bzw. Denken und Sein ist außerordentlich problematisch. Zumindest in der heutigen Terminologie ist Geist immer mehr als nur Denken, sondern auch Gefühl und Sinneserfahrung, und Sein ist immer mehr als nur Natur, nämlich auch Gesellschaftliches, ja selbst das Bewußtsein ist ja auch eine Form des Seins. Überhaupt ist der Seinsbegriff die wohl vertrackteste philosophische Kategorie, und deshalb versucht sich Engels von ihr zu lösen. Aber Engels verfügt über keinen hinreichend präzisen Materiebegriff o.ä., um dieser Schwierigkeit wirklich begegnen zu können.(11) So wird sich später die Gleichsetzung von Sein und Natur noch verhängnisvoll auswirken, weil die materiellen Beziehungen in der Gesellschaft in ihrer Qualität von „Materialität" nicht genügend von natürlichen Verhältnissen unterschieden werden. Das führt dann wiederum zur Unterschätzung des Geistigen bzw. Psychischen beim Zustandekommen und der Entwicklung sozialer Strukturen und Mechanismen und damit zu einem grundlegenden Defizit marxistischer Theorie.

4. Engels begegnet den erkenntnistheoretischen Skrupeln eines Hume oder Kant mit bedenklicher Unbedenklichkeit, ja geradezu mit Ignoranz. Für ihn ist die wahrheitsgetreue Abbildung einer bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit offensichtlich überhaupt kein Problem. Wissenschaft und Industrie, ja die Existenz des Menschen über Jahrtausende hinweg sind für ihn die Zeugen schlechthin dafür, daß die Welt erkennbar sein muß. Ansonsten wären die Menschen längst ausgestorben. Das klingt nach „evolutionärer Erkenntnistheorie", die ähnlich argumentiert(12), ohne sich dem materialistischen Widerspiegelungskonzept anzuschließen. G. Vollmer z. B. spricht von einem hypothetischen Realismus, der die Existenz einer bewußtseinsunabhängigen Realität als gegeben annimmt, ohne das jedoch im strengen Sinne wissenschaftlich beweisen zu können. Gleichzeitig wird die Subjektabhängigkeit jeglicher Erkenntnis unterstrichen. Demgegenüber mutet die Engelssche Widerspiegelungskonzeption geradezu naiv an - und man muß wohl zugeben, daß sie dies auch im vorigen Jahrhundert bereits war, schon Immanuel Kants wegen.(13)

5. Daß Engels Hegel unter die Philosophen einordnete, welche die Erkennbarkeit der Welt bejahen, macht den Wert einer Grundfrage der Philosophie im Engelsschen Sinne völlig zweifelhaft. Wenn diese Frage zwei Seiten hat, dann muß ein Materialist beide Seiten materialistisch beantworten und nicht nur eine; für den Idealisten muß dasselbe analog gelten. Offensichtlich läßt sich die ganz scharfe Grenzziehung also gar nicht durchhalten, und sowohl Engels wie auch Lenin haben gerade am Beispiel der Philosophie Hegels ihre eigene theoretische Konzeption öfter verletzt als ihnen hätte lieb sein dürfen.

6. Die Analyse der Begrenztheiten des mechanischen Materialismus macht deutlich, daß es neben einem klugen Materialismus auch so etwas wie einen dummen Materialismus geben muß, wenn sich materialistische Philosophien ihrer eigenen Weiterentwicklung entgegenstemmen. Die Betonung eines erforderlichen „Formwechsels" auch für materialistische Philosophien durch Engels ist jedoch in der Folgezeit niemals metatheoretisch genau genug untersucht worden. Marxisten schätzten den mechanischen Materialismus zumeist doch noch höher ein als den Idealismus Hegels und versperrten sich dadurch eigene Entwicklungsmöglichkeiten. Auch konnte die Engelssche Formel vom Formwechsel dahingehend interpretiert werden, daß die entscheidenden Grundthesen des Materialismus immer richtig sind und das auch bleiben, und daß Veränderungen nur in sekundären Fragen erforderlich und möglich sind. Die Frage nach einer Revolution im marxistischen Philosophieren konnte da eigentlich gar nicht auftreten bzw. wurde schon im Ansatz als revisionistisch „entlarvt". Gerade hinsichtlich des bei Engels formulierten zweiten Aspekts der Grundfrage der Philosophie hatte sich aber so viel an Unerledigtem angehäuft, daß die Verweigerung marxistisch-leninistischer Philosophie, sich bei den Aufräumarbeiten zu beteiligen, zu ihrem Ausschluß aus dem Kreis der dafür kompetenten Philosophien führte.

7.  So richtig es auf den ersten Blick zu sein scheint, die erkenntnistheoretische Seite des Materialismus von der ethisch-moralischen Orientierung abzukoppeln und dabei der Engelsschen Vorgehensweise zu folgen, so hätte dies letztlich aber nur dann einen Sinn, wenn es gelänge, eine klare systematische Linie von der Ausgangsthese der Erkennbarkeit der Welt bis hin zur theoretischen Begründung der moralischen Auszeichnung der sozialistischen Gesellschaft gegenüber der bürgerlichen oder gar der moralischen Überlegenheit des Materialisten gegenüber dem Idealisten zu ziehen. Aber so wie im persönlichen Leben aus einer richtigen Erkenntnis nicht unbedingt eine moralisch gute Handlung folgen muß, so läßt sich eine philosophische Ethik nicht aus einer Erkenntnistheorie ableiten. Man kann zeigen, daß sich hinter „Widerspiegelung" und „Abbildung", aber auch hinter philosophischen Ablehnungen solcher Termini brauchbare wie völlig unbrauchbare Theorien der Erkenntnis verbergen können und schon gar nicht lassen sich daraus verbindliche Schlüsse über ethische oder soziale Qualitäten dieser Philosophie ableiten. Es ist heute längst nicht mehr möglich, in einer bestimmten Philosophie einen bestimmten Begriff, z.B. „Abbild", aufzusuchen und je nach dem Erfolg dieser Bemühung eine Einordnung vorzunehmen. Philosophien, die auf diesen Begriff verzichten, können materialistischer sein, als solche, die ihn ständig im Munde führen. Andererseits sollte man aber auf die Angebote in der Erkenntnistheorie zurückgreifen, die der Kompliziertheit des Erkenntnisprozesses in den verschiedenen Aspekten von Alltag, Wissenschaft, Philosophie und Kunst gerecht zu werden vermögen. Warum soll denn ein Abbild immer eine Kopie sein?

Man kann also folgendes sagen: So verführerisch es ist, Philosophie auf ein einziges Grundprinzip gründen zu wollen - das ist doch schwieriger, als man zunächst annehmen sollte. Wahrscheinlich kann man den Anspruch des Marxismus, strenggenommen die einzige konsequente humanistische Weltanschauung zu sein, noch in einem ersten Schritt mit der materialistischen Beantwortung der Grundfrage der Philosophie begründen: Wenn Gott nichts anderes als die Widerspiegelung der Lebensverhältnisse des Menschen in seinem eigenen Kopf ist, dann können wir uns bei der Änderung dieser Verhältnisse nur auf uns selber verlassen. So weit wohl richtig - aber die weiteren Schritte - etwa die Konkretisierung der Ziele einer solchen Veränderung und die Wahl der Methoden bedürfen zusätzlicher Prinzipien und Voraussetzungen. Damit ist jedoch eine Grundfrage der Philosophie überfordert und strenggenommen ist sie dann gar keine Grundfrage mehr.

Literatur:

1) Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: Marx/Engels-Werke   Band 21, Dietz Verlag Berlin 1975, S.270
2) ebenda S.272
3) ebenda S.274
4) ebenda S.275
5) ebenda
6) ebenda S.282, wo Engels erläutert: "Die Tatsache ist, daß Starcke hier dem von der langjährigen Pfaffenverlästerung her überkommenen Philistervorurteil gegen den Namen Materialismus eine unverzeihliche Konzession macht - wenn auch vielleicht unbewußt. Der Philister versteht unter Materialismus Fressen, Saufen, Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Wesen, Geldgier, Geiz, Habsucht, Profitmacherei und Börsenschwindel, kurz, alle die schmierigen Laster, denen er selbst im stillen frönt; und unter Idealismus den Glauben an Tugend, allgemeine Menschenliebe und überhaupt eine ‘bessere Welt’, womit er vor anderen renommiert, woran er selbst aber höchstens glaubt, solange er den auf seine gewohnheitsmäßigen ‘materialistischen’ Exzesse notwendig folgenden Katzenjammer oder Bankerott durchzumachen pflegt und dazu sein Lieblingslied singt: Was ist der Mensch - halb Tier, halb Engel."
7) ebenda S.275
8) ebenda S.276
9) W.I.Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. In: Lenin Werke Band 14, Dietz Verlag Berlin S.191
10) F. Engels: Ludwig Feuerbach und... A.a.O., S.278
11) Einerseits benutzen Engels und Marx "materiell" im Sinne von "unabhängig vom Willen der Menschen", worunter sie die elementaren Lebensbedürfnisse, aber auch Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zählen. Feuerbach ist "Materialist", weil er die Natur für ursprünglich hält. Aber ganz über den mechanistischen Materiebegriff kommt auch Engels nicht hinaus, wenn er an einer anderen Stelle das Materielle als das Körperhafte zu bestimmen sucht. Siehe dazu: Friedrich Engels: "Die Materie als solche ist eine reine Gedankenschöpfung und Abstraktion. Wir sehen von den qualitativen Verschiedenheiten der Dinge ab, indem wir sie als körperlich existierende unter dem Begriff Materie zusammenfassen." In: Dialektik der Natur. Marx-Engels-Werke, Band 20, S.519
12) vgl. z.B. dazu: Die evolutionäre Erkenntnistheorie. Bedingungen, Lösungen, Kontroversen. Herausgegeben von Rupert Riedl und Franz M. Wuketits, Paul Parey Verlag Berlin und Hamburg 1987
13) Daß Kant scheinbar durch Hegel widerlegt worden war, spricht wiederum etwas zugunsten von Engels. Andererseits machte es sich Engels wirklich zu leicht, und er unterschätzte offensichtlich die erkenntnistheoretische Leistung Kants total, wenn er glaubte diesen widerlegen zu können, indem er auf die unbestreitbare Tatsache verwies, daß ein Hund eben wirklich vier und nicht fünf Beine habe und damit von einem unerkennbaren Ding an sich nicht gesprochen werden könne. Die Zahl der Beine eines Hundes rechnete Kant aber zu der Welt der Erscheinungen, über die sehr wohl exaktes Wissen möglich war. Sonst hätte Kant neben Philosophie nicht auch noch Astronomie, Physik und vieles andere mehr wissenschaftlich betreiben können.