Die Anfänge der Hegelschen Sozialphilosophie

Gelesen:

Martin Gessmann: Hegel.

Es soll hier nicht Anliegen sein, den Inhalt des Buches von Martin Gessmann, der Biographie und Werkinhalte Hegels in Bezug setzt, zu wiederholen. Ich möchte nur auf den Beginn der Entwicklung einer wichtigen Fragestellung bei Hegel eingehen: der sozialphilosophischen Frage nach dem Verhältnis von menschlichen Individuen und ihren Vereinigungen bzw. der Gesellschaft. Wir werden die in der neueren politischen Diskussion debattierte „individuelle Selbstentfaltung“ gedacht finden. Es gibt dabei zwei große Alternativen: das Gemeinsame kann die Besonderheit des Einzelnen negieren, subsumieren – oder es lebt gerade durch die Besonderheiten der Einzelnen. Für das Denken der ersten Alternative ist formale Logik ganz gut geeignet – die Denkform für die zweite wird zu einem Hauptinhalt der Hegelschen Philosophie.

Nachdem in der beginnenden Neuzeit eine „natürliche (gottgegebene) Soziabilität [...] nicht mehr vorausgesetzt werden kann“ (Sonntag: 157), wird die Konstitution des Gemeinwesens zum Problem. Der Mensch wird nicht mehr als „zoon politicon“ wie bei Aristoteles gesehen, sondern es werden isolierte Individuen vorausgesetzt, nach deren sozialer Bindung nun gefragt wird (Hobbes, Locke.... vgl. Schlemm 2001). Eine Bindung, die vorher nur als natürlich vorgegeben (und deshalb unveränderbar) galt, wurde dadurch freigesetzt für selbstbestimmte Gestaltung – dies ist immerhin ein Fortschritt. Es werden Vorstellungen über Gesellschaftsverträge entwickelt und auch die Persönlichkeit des Individuums gilt als formbar und veränderungsnotwendig. Da die Persönlichkeit und auch die Gesellschaftlichkeit nicht mehr als unveränderbar gegeben angenommen wurden, entstanden Überlegungen, wie sie im Sinne eines sittlichen Lebens bewusst gestaltet werden könnten. Die Sozialphilosophien der Neuzeit gipfelten dann in der Aufklärung und im Werk Immanuel Kants.

 

Hegel, obgleich er heute fast nur als schwer verdaulicher Denker bekannt ist, sah von Anfang an gerade nicht im reinen Denken etwas Sinnerfüllendes und Vorwärtsbringendes. „Aufklärung des Verstands macht zwar klüger, aber nicht besser.“ (Fragm: 21). Die Aufklärung will durch den Verstand wirken – aber dies stößt an Grenzen, denn „durch den Verstand werden die Grundsätze nie praktisch gemacht“ (ebd.). Gerade die Frage nach der Praxis führt Hegel über Kant und die Aufklärung hinaus.

Es sind mindestens zwei Probleme, die Hegel zum Weiterdenken bringen: Einerseits fehlt die Überbrückung zwischen Idee und Wirklichkeit bei Kant (vgl. Gessmann: 23) und andererseits führte die versuchte Verwirklichung des Reichs der Vernunft im Verlauf der französischen Revolution zu unvernünftigem Terror.

Der erste positive Ansatz Hegels besteht im Versuch der Entwicklung einer „Volksreligion“.  Religion soll aufgeklärt sein, aber Vernunft soll nicht ohne Verwirklichung sein – Volksreligion sollte beides verbinden.

Eine angemessene Religion darf sich auch nicht bloß abstrakt mit Menschen beschäftigen, Menschen abstrakt lieben – sondern sie muss die konkrete Verbindung von Menschen darstellen. Über diese Verbindungen spricht Hegel mit den Worten Liebe und Freundschaft. Beide bestimmt er inhaltlich auf eine Weise, die auch später in seinem Geistbegriff noch enthalten sein wird: Es geht um das Abstreifen des Abstrakten, um das Vordringen zum Konkreten, auch wenn es sich vom einzeln-Sinnlichen löst und konkret-Gemeinschaftliches wird. In seiner Logik wird er dann die Inhalte und Gedankenformen entwickeln, in denen solch konkret-Allgemeines (als Einheit von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem) im Unterschied zum formalen abstrakt-Allgemeinen (in Entgegensetzung zum Besonderen) gedacht werden kann. Hier ist Hegel selbst noch im Reich der Vorstellungen.

Freundschaft – auch aus seiner Erfahrung mit Schelling und Hölderlin heraus – bekommt große Bedeutung für Hegel. Freundschaft entsteht demnach dort, wo Menschen gemeinsame Ziele verfolgen:

„Freundschaft beruht auf Gleichheit der Charaktere, besonders des Interesses, ein gemeinsames Werk miteinander zu tun, nicht auf dem Vergnügen an der Person des anderen als solcher.“ (NHS: 271)

Die Ziele und ihr Ideal können aber nicht außer uns gesetzt sein; Freundschaft muss konkret genug sein. Die Freunde müssen zwar ebenbürtig sein, aber auch unterschiedlich genug, so dass aus ihrer Gemeinsamkeit ein „Akkord“ unterschiedlicher Klänge entstehen kann. Freundschaftliche Verbundenheit schränkt auch Freiheit nicht ein:

„Freie Menschen lassen sich auf etwas ein, was ihnen nominell ihre Freiheit nehmen müsste – sie lassen sich durch einen anderen in ihrem  Handeln bestimmen – , tatsächlich aber ihre Freiheit bestärkt und noch mehr als das, sie auch mit Grund und Ziel versieht.“ (Gessmann: 31)

Es geht zwar um ein allen gemeinsames höheres Ziel, dieses steht aber nicht abstrakt über ihnen, sondern es muss in sich so differenziert sein, dass jeder das Seinige tun kann und damit im Ganzen wirkt. Wir haben hier bereits eine Vorstellung für den späteren Begriff der „Totalität“. Die spätere Behauptung, nur die Totalität sei frei, ist schwer zu denken – eher vorstellbar ist die Tatsache: „Frei ist die Freundschaft gerade und nur dann, wenn die Freunde bei aller Einigung dennoch selbständig bleiben.“ (ebd.: 32)

Auch in der Liebe stellt sich Hegel eine Vereinigung zwischen Zweien vor, bei der nicht eins das andere vernichtet oder beherrscht. Solch eine Liebe steht noch über der praktischen Tätigkeit, die ihr Objekt umgestaltet und dadurch beherrscht und vernichtet. „Die praktische Tätigkeit vernichtet das Objekt und ist ganz subjektiv – nur in der Liebe allein ist man eins mit dem Objekt, es beherrscht nicht und wird nicht beherrscht“ (Entw: 242). Später wird Hegel für diese Art Subjektivität, die eins ist mit dem Objekt und ihm nicht entgegen steht, den Begriff „übergreifende Subjektivität“ (Enz.I: 373) finden. „Der Geliebte ist uns nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem Wesen; wir sehen nur uns in ihm, und dann ist er doch wieder nicht wir – ein Wunder, das wir nicht zu fassen vermögen.“ (ebd.: 244)

Bei dem Anstaunen dieses Wunders möchte Hegel aber nicht stehen bleiben. Er möchte es doch fassen und geht weiter zum Lebendigen, dessen Gefühl die Liebe ist. In der Liebe fühlt das Lebendige das Lebendige (ebd.: 246). Würde Hegel bei Gefühlen wie der Liebe stehen bleiben, verlören sich diese im Mannigfaltigen. Hegel sucht ihre Einheit, die Besonderheiten nicht zerstört, sondern geradezu von ihnen lebt. Diese findet er im Leben. „In der Liebe ist dies Ganze nicht als in der Summe vieler Besonderer, Getrennter enthalten; in ihr findet sich das Leben selbst, als eine Verdoppelung seiner selbst, und Einigkeit desselben.“ (Entw: 246)

Das Leben bzw. das Organische hat die für das logische Denken schwer begreifbare Eigenart, dass Zweck und Mittel eins werden (Gessmann: 34ff.; vgl. Phän.: 199 ff.), dass Ursache und Wirkung nicht mehr linear aufeinanderfolgend zu denken sind (ebd.: 42ff.). In der Idee ist das Ganze als Ziel aller einzelnen Bewegungen gerade die gegenseitige Bezugnahme aller Bestimmungen (ebd.: 35) und ist damit Ursache und Wirkung zugleich.

Gessmann zeigt, dass das Lebendige für Hegel jenes Prinzip verwirklicht, bei dem Verbindung und Entgegensetzung verbunden (Syst: 422) wird. „Das Getrennte in seiner Trennung überwinden, es aufheben in eine höhere Einheit, dabei aber gerade nicht die Relate vernichten – das heißt die Trennung in der Einheit als eine Einheit in der Trennung zu begreifen.“ (Gessmann: 33)

Das Ganze ist demnach nichts Homogenes, dem Einzelnen entgegenstehendes und das Einzelne ist nichts ohne sein Zugehören zum Ganzen. Für die Individualität gilt deshalb:

„Der Begriff der Individualität schließt Entgegensetzung gegen unendliche Mannigfaltigkeit und Verbindung mit demselben in sich; ein Mensch ist ein individuelles Leben, insofern er ein anderes ist als alle Elemente und als die Unendlichkeit der individuellen Leben außer ihm; er ist nur ein individuelles Leben, insofern er eins ist mit allen Elementen, aller Unendlichkeit der Leben außer ihm; - er ist nur, insofern das All des Lebens geteilt ist, er der eine Teil, alles übrige der andere Teil; er ist nur, insofern er kein Teil ist und nichts von ihm abgesondert.“ (Syst: 419f.)

Für das mannigfaltig gegliederte Ganze verwendet Hegel (bzw. die wahrscheinlich zusammen als Autoren tätigen Schelling und Hölderlin ebenfalls) hier bereits das Wort „Geist“:

„Geist ist die lebendige Einigkeit des Mannigfaltigen im Gegensatz gegen dasselbe als seine Gestalt, [die] die im Begriff des Lebens liegende Mannigfaltigkeit ausmacht, nicht im Gegensatz gegen dasselbe als von ihm getrennte, tote, bloße Vielheit; denn alsdann wäre er die bloße Einheit, die Gesetz heißt und ein bloß Gedachtes, Unlebendiges ist.“ (ebd.:

Geist ist nicht nur abstrakt Gedachtes und nicht nur Gefühl und es ist nicht das Zusammenbringen absolut Getrennter und es ist nicht nur harmonisch. Was als organische Einheit noch „Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung“ (System: 244) genannt worden war, nennt Hegel in Anschluss an Schelling später: „Identität der Identität und der Nichtidentität“(Vergl: 96). Diese Identität enthält notwendigerweise den Widerspruch.

„Aber der Geist ist nicht jener Widerspruch, welcher das Ding ist, das sich auflöst und in Erscheinung übergeht; sondern er ist schon an ihm selbst der in seine absolute Einheit, nämlich den Begriff zurückgegangene Widerspruch, worin die Unterschiede nicht mehr als selbständige, sondern nur als besondere Momente im Subjekte, der einfachen Individualität, zu denken sind.“ (WdL II: 147)

Für Menschen bezieht Gessmann dies darauf, dass alle zwar identisch sind, insofern sie alle ein gemeinsames Ziel verfolgen, aber da sie auch verschiedene Ziele verfolgen, sind sie nichtidentisch (Gessmann: 39). Die Notwendigkeit des Widerspruchs besteht darin, dass sie ihr Ziel nur erreichen, „solange sie nicht „identisch“ reagieren und arbeiten“ (ebd.: 40). Jedes einzelne Individuum bleibt „für sich“ und dient damit „an sich“ einem übergeordneten Ziel (ebd.).

Das Denken der Widersprüchlichkeit gelingt nun nicht mit dem bloßen Verstand. Widerspruchsfreies Denken ist immer gerade das Lebendige Ausschließende. Kant hatte Verstand und Vernunft in ihrer Unterscheidung weitestgehend getrennt. Während der Verstand das Mannigfaltige synthetisiert, unter seine Regeln zusammen fasst (KrV: 144), so besteht die Vernunft in dem „Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien“ (ebd.: 314). Bei Hegel soll die Vernunft selbst Geist werden, und – während Kant Widersprüche als Antinomien ausschloss – gerade das Denken der widersprüchlichen Beziehung von Vielheit und Einzelheit ermöglichen (vgl. Gessmann: 41). Der vernünftige Begriff als das Allgemeine an einer Sache „ist nichts anderes als das ständige Treffen von Regelungen, in denen Besonderheiten auf allgemeine Weise miteinander in Beziehung treten.“ (Gessmann: 142f.)

Hegel setzt die Vernunft nicht gegen den Verstand[1], sondern bemüht sich, die Vernunft im Verständigen aufzusuchen. Es geht ihm dabei nicht darum, alles Gegebene, Vorhandene zu rechtfertigen[2], aber darum, in den vorhandenen Verhältnissen „selbst den Rückweg zu ihren  besseren Ursprüngen offenzuhalten, oder anders und in die Zukunft gewendet, ihr zumindest die Möglichkeit eines neuen Anfangs und möglicher Vollendung nicht zu verschließen“ (Gessmann: 59).

Die Vernunft im Verständigen zu sehen, bedeutet auch, die Einheit des Mannigfaltigen nicht gegen das Mannigfaltige zu stellen, beides einander als äußerlich entgegen zu setzen. Hegel versucht spätestens ab 1807 mit seiner „Spekulation“ nicht mehr, eine höhere Einheit gegen die Vielfalt zu erdenken, sondern die Einheit in der Vielfalt der Widersprüche zu begreifen.

In seinem „Naturrechtsaufsatz“ (NR) untersucht und kritisiert Hegel jenes Vorgehen der empirischen Wissenschaft, bei dem recht beliebig eins der einzelnen Momente der Vielheit zum Wesen erklärt und damit zum das Ganze Beherrschende deklariert wird.

„Die Natur dieses Absonderns bringt es mit sich, daß das Wissenschaftliche nur auf die Form der Einheit gehen und an einem organischen Verhältnisse von den vielerlei Qualitäten, in die es sich verteilen läßt, wenn sie nicht bloß erzählt werden sollen - um über diese Menge eine Einheit zu erreichen - irgendeine Bestimmtheit herausgehoben und diese als das Wesen des Verhältnisses angesehen werden muß. Aber eben damit ist die Totalität des Organischen nicht erreicht, und das Übrige desselben, aus jener erwählten Bestimmtheit Ausgeschlossene kommt unter die Herrschaft dieser, welche zum Wesen und Zweck erhoben wird.“ (NR: 440)

Im Unterschied dazu strebt Hegel eine Wissensform an, in im Ganzen/Allgemeinen nicht nur ein Einzelnes verabsolutiert wird, sondern das eine gegliederte Einheit von Mannigfaltigem ist.

„Weil aber praktische Wissenschaften ihrer Natur nach auf etwas reell Allgemeines oder auf eine Einheit gehen, welche die Einheit von Differentem ist, so müssen in der praktischen Empirie auch die Empfindungen nicht reine Qualitäten, sondern Verhältnisse, es seien negative wie der Selbsterhaltungstrieb oder positive als Liebe und Haß, Geselligkeit und dergleichen, in sich schließen“ (NR: 438)

Während die Naturwissenschaft Widersprüche ausschließt (vgl. Borzeszkowski, Wahsner 1989), sind die Widersprüche in der Gesellschaft, dem Bereich des Sittlichen, nicht mehr ausschließbar (vgl. Warnke 1977a und 1977b). Wie kann eine solche widersprüchliche Einheit aber gedacht werden?

Hegel zeigt die Möglichkeit dieses spekulativen Denkens zuerst in seinem ersten größeren Werk „Phänomenologie des Geistes“. Es geht hier darum, in allen Erscheinungen das Geistige zu erkennen. Dabei wird das Widersprüchliche gerade nicht wegerklärt, sondern „in seinem Grund erfaßt und verstanden“ (Gessmann: 83). Aus den Ausführungen dazu ergibt sich dann Kritik einseitiger Auffassungen, z.B. jener vom „allgemeinen Willen“, bei dem nach Kant der Wille des Einzelnen unmittelbar der Wille des Ganzen sein soll. Die Einzelnen sind dann nicht mehr in ihren Besonderheiten wichtig, sondern es geht darum, dass „jeder immer ungeteilt alles tut“ (Phän.: 433) Hegel diskutiert an dieser Stelle alle Möglichkeiten, die zwischen Diktatur und ordnungsloser Anarchie schwanken. Er entwickelt Gedanken zur höheren Einheit dieser auseinander strebenden Tendenzen und das „Höhere“ zeigt sich darin, dass keins der Momente so bleibt, wie es vorher war, sondern in veränderter Weise eine neuartige Verbindung mit dem anderen eingeht – die nichtsdestotrotz widersprüchlich bleibt. Die neue Einheit ist eine „sich bewegende Durchdringung des Allgemeinen [...]  und der Individualität“ (Phän.: 291). Das Individuelle konstituiert in seiner Bewegung das Allgemeine; „Die Bewegung der Individualität ist die Realität des Allgemeinen. (ebd.); das Allgemeine ist der Geist als sittliche Substanz, als sittliche Wirklichkeit – der gemeinsame Ausgangspunkt und das gemeinsame Werk aller Einzelnen – heute würde man wohl auch „Gesellschaft“ dazu sagen.

Das Denken dieser Einheit widersprüchlicher Momente ist dann auch weiterhin des Hegelschen Philosophierens, dass sich in der Wissenschaft der Logik, der Enzyklopädie und allen anderen Vorlesungen und Schriften Hegels zeigen wird.

In den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (PR) geht es nicht um die Suche nach einem idealen Staat, einer idealen Gesellschaft, auch nicht um die Legitimation oder Kritik einer konkreten Staats/Gesellschaftsform, sondern die Vernunft ist grundsätzlich nicht in einer festen Form zu finden, sondern sie besteht in der jeweiligen Organisationsleistung, bei der die Teile immer wieder und ständig zu einem Ganzen verbunden werden. Wenn Hegel seine Schrift versteht als einen „Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen“ (PR: 26), so geht es darum, „herauszufinden, was denn der eigentliche Sinn der Regelungen ist.[..] Was soll damit in Wirklichkeit erreicht werden?“ (Gessmann: 118)

Mit der Sittlichkeit (nach dem Durchgang durch Recht und der Moralität) erreicht Hegel schließlich eine Verbundenheit zwischen Individuen, bei denen die Individuen als Besondere sich gegenseitig wesentlich sind; der eine will, was zum Wohle des anderen beiträgt (Gessmann: 123). Es ist bemerkenswert, dass Hegel seinen Durchgang durch die Momente der Sittlichkeit mit der Familie beginnt, als einer Liebesgemeinschaft, in der der Einzelne von vornherein nicht – wie bei Hobbes und dem ansonsten vorherrschenden bürgerlichen Menschenbild – zuerst als Isolierter genommen wird, der dann seine Verbindungen findet, sondern als ein Individuum, das von vornherein sich selbst in einer anderen Person gewinnt, der in ihr gilt, was diese in ihm erreicht (GR: 308). In der Liebe (als erstem Moment der Sittlichkeit wird diese Einheit, in der einer sich im anderen wiedergewinnt, nur empfunden; es muss noch zum vollen Bewusstsein gebracht werden. Dies geschieht im Staat (als drittem Moment), dessen Existenzbedingungen in der bürgerlichen Gesellschaft (als zweitem Moment) herausgebildet werden (Ökonomie, Institutionen, die Überleben des Staates sichern, ...).. Bei diesen Darstellungen geht es nicht um die genannten historisch veränderlichen Formen, sondern um die Organisationsleistung – und deren Entwicklung, so betont Hegel, ist nie wirklich abgeschlossen. Die Weltgeschichte als historische Perspektive wird von Hegel als höchste Wahrheit erkannt. Allein diese Endstellung im Fortgang der Entwicklung der Vernunft verbietet die Annahme, Hegel hätte die Geschichte, die Entwicklung in den zu seiner Zeit herrschenden Staatsformen beendet gesehen. Zwar lehnt er das abstrakte Entgegenstellung eines Ideals gegenüber einer schlechten Realität ab. Sein berühmter und oft missverstandener Ausspruch über die Einheit von Wirklichkeit und Vernunft wird nach neueren Erkenntnissen und Mitschriften eines Schülers von ihm aber eher in dem Sinne gemeint:

„Was vernünftig ist, das ist wirklich,
und was wirklich ist, das ist vernünftig.“
(GPR: 24)

 

Literatur:

Borzeszkowski, Horst-Heino von; Wahsner, Renate (1989): Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch. Studien zum physikalischen Bewegungsbegriff. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Gessmann, Martin (1999): Hegel. Freiburg, Basel, Wien: Herder.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (Entw): Entwürfe über Religion und Liebe. Werke in 20 Bänden; Band 1. Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (Enz.I): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil. Werke in 20 Bänden; Band 8. Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (Fragm): Fragmente über Volksreligion und Christentum. Werke in 20 Bänden; Band 1. Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (GP): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Werke in 20 Bänden; Band 19. Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (GPR): Grundlinien der Philosophie des Rechts. oder Naturrecht und Staatswissen-schaft im Grundrisse. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 1970.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (NHS): Nürnberger und Heidelberger Schriften. Werke in 20 Bänden; Band 4. Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (NR): Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften. Werke in 20 Bänden; Band 2. Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (Phän): Phänomenologie des Geistes. Werke in 20 Bänden; Band 3. Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (PR): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke in 20 Bänden; Band 7. Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (Verh): Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie Darstellung seiner verschiedenen Modifikationen und Vergleichung des neuesten mit dem alten.. Werke in 20 Bänden; Band 2. Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (Syst): Systemfragment von 1800. Werke in 20 Bänden; Band 1. Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (Vergl): Vergleichung des Schellingschen Prinzips der Philosophie mit dem Fichteschen. Werke in 20 Bänden; Band 2. Suhrkamp Verlag 1970.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (WdL II):. Wissenschaft der Logik. Band II. Werke in 20 Bänden; Band 6. Suhrkamp Verlag 1970.

Kant, Immanuel (KrV): Kritik der reinen Vernunft. In: Werke in zwölf Bänden. Band 3. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977.

Schlemm, Annette (2001): Die Natur des Menschen. http://www.thur.de/philo/kp/mensch.htm.

Sonntag, Michael (1999): „Das Verborgene des Herzens“ Zur Geschichte der Individualität. Reinbek: Rowohlt.

Warnke Camilla (1977a), Einleitung. In: Heidtmann, B., Richter, C., Schnauß, G., Warnke, C., Marxistische Gesellschaftsdialektik oder "Systemtheorie der Gesellschaft"? Berlin, S. 7-24.

Warnke Camilla (1977b): Gesellschaftsdialektik und Systemtheorie der Gesellschaft im Lichte der Kategorien der Erscheinung und des Wesens. In: Heidtmann, B., Richter, C., Schnauß, G., Warnke, C., Marxistische Gesellschaftsdialektik oder "Systemtheorie der Gesellschaft"? Berlin, S. 25-68.

 



[1] Hegels Ausführungen zum „Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie“ (Skept) lassen sich hervorragend auch in Bezug zu postmodernen Dekonstruktionsmethoden lesen...

[2] „Die Wirklichkeit ist zu gut; was wirklich ist, ist vernünftig. Man muß aber wissen, unterscheiden, was in der Tat wirklich ist; im gemeinen Leben ist alles wirklich, aber es ist ein Unterschied zwischen Erscheinungswelt und Wirklichkeit. (GP: 110 f.)


 

 
Zur Rolle Ökonomie und Arbeit bei Hegel (nach Lukács)
 
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