Zum Verhältnis von Theorie und Wirklichkeit in der Naturwissenschaft
Dies ist ein Ausschnitt aus einem Brief, in dem ich etwas zum Verhältnis von Theorie und Wirklichkeit in den Naturwissenschaften zusammen gefaßt habe. Es gibt weiterführende Links, bei denen dann auch die entsprechende Literatur angegeben ist.

I) Hegelsche Unterscheidung von Seins-, Wesens- und Begriffslogik

Die ganze Geschichte der Philosophie durchzieht die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein. Es wäre zu einfach, jeweils einen der Pole als "das Wirkliche" zu nehmen und das andere nur als "Ausfluss" oder "Abbildung". Einerseits wäre das Denken das Wahre und alle Seinsformen wären nur Ausflüsse, Erscheinungsweisen dieses Wahren (objektiver oder subjektiver Idealismus) und andererseits wäre das Seiende das Wirkliche und könne im Denken nur abgebildet, quasi kopiert werden (mechanischer Materialismus). Dem gegenüber betonten die klassischen deutschen Philosophen Schelling und Hegel die Identität von Denken und Sein. Aber sie meinten damit keine platte Äquivalenzidentität, sondern eine einheitliche Entwicklungstotalität.

Schelling beschreibt diese als unendliches, unbedingtes Absolutes (außer aller Zeit), das sich im Endlichen, Bedingten in zeitlichen Entwicklungsprozessen verwirklicht. In der copula von wahrem Seyn (im Absoluten) und dem Schein (im Endlichen, Materiellen) sind Einzelnes (Endliches) und sein Wesen (das Unendliche) verbunden. Die Identität zeigt sich darin, dass z.B. in der Aussage "Der Körper ist rot" Endliches und Unendliches sowie Einzelnes und Wesen identisch ist. Das Einzelne (z.B. der erkennen wollende Mensch) kann sich durch Einbildungskraft (bzw. "intellektuelle Anschauung") dazu bringen, diese Einheit und damit das Absolute zu erfassen.

"Philosophiren über die Natur heißt, sie aus dem todten Mechanismus, worin sie befangen erscheint, herauszuheben, sie mit Freiheit gleichsam zu beleben und in eigne freie Entwicklung zu versetzen."
Der Physiker dagegen, welcher die Ordnung des Universums und der Natur aus ... bloß passiven Bestimmungen, aus Größe, Figur, Lage der Theile usw. begreifen will, würde die Natur, das unendliche Leben selbst in Tod verwandeln."
Hegel macht es komplizierter. Bis hierher hatten wir zwei Pole: das Sein und das Denken, das Sein und den Begriff. Hegel stellt fest, dass zwei Pole nie wirklich eine Einheit finden, in der sie nicht zerstört würden. Entweder die Pole bleiben in einer ewigen unfruchtbaren Hin- und Her-Wechselwirkung oder sie verschwinden beide in einer einheitlichen "Grau- in-Grau"-Identität (wenn die Unterschiede der beiden völlig ausgelöscht werden). Nötig ist als Drittes eine Vermittlung. Die Vermittlung zwischen der Logik des Seins und der Logik des Begriffs ist bei ihm die Logik des Wesens.

Für Hegel ist diese Logik jeweils die Bewegung der Sache selbst, nicht nur eine vom Inhalt, von der Sache trennbare Erkenntnismethode. Man kann nur erkennen, was in der Sache selbst ist, man hat nichts an sie "von außen her" heranzutragen. Also: Jedem dieser drei Stadien (Diese Stadien gibt es auch in Bezug auf andere Inhalte, nicht nur Seins- Wesens- und Begriffslogik, deshalb nenne ich sie allgemeiner 1.,2. und 3.) entspricht eine wirkliche Art der Bewegung und eine Weise, diese Bewegung zu erkennen. Populär sind diese drei Stadien auch als "These", "Antithese" und "Synthese" bekannt, was aber Hegel widerspricht! (er spricht sich auch explizit gegen das Wort Synthese aus, weil es nahe legt zu denken, zwei vorher unvereinigte Dinge würden zusammengebracht und dann vereinigt. Hegels 1. und 2. sind aber von vornherein nichts voneinander Unabhängiges! Sondern sie gehen aus einer anderen Einheit hervor.)

 
Da bin ich schon beim näheren Erläutern der Stadienabfolge: Es gibt mindestens zwei Sichtweisen:

A) 1. sind einzelne wahrnehmbare Tatsachen, Fakten,
2. ist dann deren Verallgemeinerung auf Grundlage jener Eigenschaften, die alle Tatsachen und Fakten gemeinsam haben und Vernachlässigung der auch noch vorliegenden Besonderheiten von jedem Einzelnen (das Ergebnis ist etwas "abstrakt-Allgemeines")und
3. ist dann eine Verallgemeinerung, in der die Einheit erkannt wird, aber auch die Besonderheiten der Einzelnen wesentlich sind (dies ist dann das "konkret-Allgemeine"). Das ist dann eine sog. "Totalität" und niemals ein abgeschlossenes, kristallines Ganzes, sondern "Das System, das Ganze ist Entwicklung".

B) Wir können auch - und das entspricht Hegels Umgang mit dem Absoluten adäquater -
1. von einem Ganzen ausgehen, in dem keine wesentlichen Unterschiede differenziert werden, das noch ganz "grau in grau" ist (war in A) das 2., also das abstrakt-Allgemeine). Aus diesem differenzieren sich dann
2. verschiedene Momente aus unterschiedene, sogar gegensätzliche und sich widersprechende heraus (waren in A) die 1.) und erst
deren Vereinigung (in 3.), wobei die Widersprüchlichkeit, die "Buntheit" nicht wieder zerstört, sondern mit aufgehoben wird (im konkret-Allgemeinen), ergibt dann die Totalität.
Die ersten beiden Momente: 1. und 2. sind also in der Reihenfolge austauschbar, beide Momente gehören quasi auf einer Ebene zusammen (einander negierend) und ihre Vermittlung ist dann eine Wieder-Vereinigung auf höherer Ebene (3.).

Die Welt, das Absolute der Welt ist eine Entwicklungstotalität. Sie zeigt sich uns aber nicht sofort in dieser Form, weil sie als Unendliches unser endliches Erkenntnisvermögen immer übersteigt. Wir können die einzelnen Fakten sehen und beschreiben, dann sehen wir sie in ihrer Seinslogik, bzw. "erkennen/denken seinslogisch", oder wir können die Wesenszüge bestimmter Bereiche erkennen, d.h. das jeweils dafür Unwesentliche weglassen, dann erkennen wir die Wesenslogik bzw. "erkennen/denken wesenslogisch". Wenn wir beides gemacht haben (und nur dann!) können wir aber noch etwas: deren Einheit begreifen. Das geht dann nicht mehr mit formallogischem Denken, denn da gibt's logische Widersprüche, weil die Momente 1. und 2. einander immer widersprechen müssen - dieser Widerspruch darf nicht wie im wesenslogischen Denken wegabstrahiert werden. Das Begreifen der Einheit nicht trotz, sondern wegen der Widersprüchlichkeit der Momente ist begriffslogisches Denken. In dieser Widersprüche wird die Sache als sich Entwickelnde begriffen, deshalb ist begriffslogisches Denken immer konkretes Entwicklungsdenken, Begreifen der entwicklungsbestimmenden Widersprüchlichkeit etc., etc. und hat nichts mit erstarrendem "Totalitarismus" zu tun - im Gegenteil !!! Das Absolute, die konkret-allgemeine Einheit ist immer die sich entwickelnde, konkrete Sache, die aufgrund der Widersprüchlichkeit aus sich heraus produktiv ist.

Übungsaufgabe:
Drei Blinde disputieren. Dabei gibt es verschiedene Phasen:
a) Einer sagt: Was hier vorliegt, ist ein Strick mit Quaste. Ein anderer meint: Nein, das ist ein Schlauch mit Rillen. Der Dritte schließlich meint, nein das ist eine schlecht geputzte Hauswand... Auf diese Weise könnten sie ewig ihre "Meinungen austauschen" und schön tolerant ihre Bemerkungen nebeneinander stehen lassen.
b) Nach längerer Zeit stellen sie fest, dass Strick und Schlauch sich nie weiter als 7,5 m voneinander entfernen. Sie haben ein wissenschaftliches Gesetz entdeckt! Und das Gesetz erscheint als Allgemeines, das das Einzelne unterdrückt. Und sie wissen immer noch nicht, wovon sie eigentlich reden.
c) Ein Sehender kommt hinzu und klärt sie auf (im günstigsten Fall kommen sie auch selber drauf): Ihr betastet und berechnet und bemesst die ganze Zeit einen "Elefanten"! (die konkreten Entwicklungseinheit von Schlauch, der jetzt als Rüssel begriffen und Quaste, die jetzt als Schwanz begriffen wird...)
Frage: Welchen Logiken entsprechen die drei Phasen?

Der Elefant ist als sich entwickelnder Organismus Träger und gleichzeitig Begründungszusammenhang für die Gesetze und Tatsachen seines Daseins...

Naturwissenschaftliche Erkenntnis kann aber nicht einfach in diese Stadienreihenfolge eingeordnet werden. Bei Hegel ist diese als "beobachtende Vernunft" der Wesenslogik sehr nahe eingeordnet. Hegel missachtet dabei aber, dass die Menschen in ihrem Erkennen auch Mittel, Vermittlungen verwenden, die in seinem System noch nicht berücksichtigt sind.

Siehe dazu:
II.) Untersuchung der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Naturwissenschaften

Wir erinnern uns an die Schellingsche Forderung, dass Philosophie die Natur aus ihrem "todten Mechanismus" aufzuheben habe. Dass die Natur als "todter Mechanismus" beschrieben werde, wird der Naturwissenschaft zugeschrieben. Bevor gefragt werden kann, ob die Naturwissenschaft dafür zu kritisieren sei bzw. ob sie selbst in dieser Hinsicht verbesserbar sei oder durch Philosophie ersetzt werden muss, muss die Naturwissenschaft selbst besser verstanden werden. Warum tut sie das, was sie tut? Welchem der oben genannten Denktypen bzw. -stadien ist sie zuzuschreiben?

Hegel verankert sie in der Wesenslogik - diese Art Wissenschaften sind - wie auch Marx bekräftigt - notwendig, um von den Erscheinungen her das Wesen der Dinge und Prozesse zu erkennen (Die positivistische Annahme, die Wissenschaft würde das Einzelne induktiv verallgemeinern und das Wort Wesen habe nichts in der Wissenschaft zu suchen, berücksichtige ich hier nicht). Auch Hegel unterliegt dem Irrtum, die Gegenstände und Methoden der Naturwissenschaften seien uns unmittelbar gegeben. Auf diese Weise werden sie zu Objekten und diese Objekthaftigkeit bedingt ihren Tod (Schelling) und ihre Darstellung als "Abfall von der Idee" (Hegel).

Aber hier wird wieder die Vermittlung vergessen: Erkenntnis ist nur als zwischen Objekten und Subjekten vermittelter Prozess zu verstehen. Dazu müssen wir weiter ausholen:

Beginnen wir mit der ganzen Welt. Diese ist nach allem was wir wissen ein unendlich ineinander verwobener und sich entwickelnder Komplex gegeneinander unterscheidbarer und allzu oft widersprüchlicher Entwicklungszusammenhänge (Schelling und Hegel nennen das das "Absolute"). Wenn wir diese Welt erkennen wollen, wird das kaum "auf einen Blick" möglich sein. Im Punkt I diskutierten wir schon verschiedene unterschiedlich orientierte und aufeinander aufbauende Denktypen. Neben diesen Weltanschauungstypen gibt es aber noch andere Arten, die Zusammenhänge der Welt für die Menschheit zu erschließen. Die naturwissenschaftliche, speziell physikalische, Erkenntnis verzichtet auf das Begreifen der widersprüchlichen Gesamtheit aller Momente - sondern unternimmt die spezifische Aufgabe, (physikalische...) Bewegungsformen mess- und berechenbar zu machen. Dies zu können, ist ein legitimes Interesse der Menschen. Wenn sie dies wollen, müssen sie jedoch die den Entwicklungskomplexen inhärenten Widersprüche so umwandeln, dass sie dem Ziel, u.a. der Berechenbarkeit nicht mehr widersprechen. Die Komplexität der Welt wird reduziert und zwar auf eine ziemlich trickreiche Art und Weise, so dass die Objekte der Naturwissenschaft nicht mehr wie die wirklichen Naturgegenstände miteinander widersprüchlich zusammenhängen, sondern die beiden Teile des Widerspruchs auf zwei wirklich getrennte physikalische Messgrößen (für andere Wissenschaften: wissenschaftliche Kategorien für unterscheidbare Prozesse) verteilt werden. Der Widerspruch zeigt sich dann "nur" noch darin, dass die Beziehung vieler Messgrößen zueinander z.B. komplementär ist (in der Quantentheorie) oder beispielsweise in der Evolutionsbiologie Mutation und Selektion als gegensätzliche Wechselspielprozesse miteinander zusammenhängen. Da z.B. Ortsbewegung bedeutet, dass ein Körper gleichzeitig an einem Ort ist und nicht mehr an diesem Ort ist, können die Zeit und der Ort nicht beide in einer mathematischen Formel (die durch ein Äquivalentgleichheitszeichen bestimmt ist) auftauchen. Aber wenn wir die physikalische Größe "Geschwindigkeit" bilden, können Geschwindigkeit und Zeit in einer solchen Formel widerspruchslos auftauchen. In analoger Weise wurden alle Messgrößen gebildet (auch wenn dies ihren Entwicklern nicht völlig klar war). Diese Messgrößen sind die eigentlichen Objekte der Naturwissenschaft. Wenn wir diesen Prozess allerdings philosophisch betrachten, sehen wir, dass diese Messgrößen und alles, was zu ihrer Ermittlung notwendig ist (Messgeräte, wie auch theoretische Grundlagen, sie definieren zu können, wie Raum-Zeit-Vorstellungen etc.) Erkenntnismittel sind, die Erkenntnissubjekte zur vermittelten Erkenntnis ihrer Objekte nutzen.

Messgrößen sind also Entitäten, die wir gemacht haben - die aber auch nicht völlig subjektivistisch-beliebig konstruiert werden können, sondern auf realen Verhaltensweisen der Naturgegenstände beruhen, die tatsächlich äquivalent gesetzt werden können. In Messgrößen werden ganz bestimmte - nämlich messbare und Berechnung zugrundelegbare - reale Verhaltensweisen der Naturgegenstände substantiviert. Der Naturgegenstand ist nicht unmittelbar Objekt, er selbst besitzt in seiner ganzen Lebendigkeit ein unerschöpfliches Arsenal an realen Verhaltensweisen. Naturwissenschaftlich beziehen wir uns aber bewusst nur auf ganz bestimmte (durchaus realer) dieser Verhaltensweisen, aus denen wir unsere Messgrößen gewinnen. Diese Messgrößen tragen durchaus Qualitäten in sich - Naturwissenschaft ist nicht wie Mathematik qualitätenlos. Naturgesetze, die i.a. als Formeln mit verschiedenen Messgrößen erscheinen, sind eine Form, wie unterschiedliche Qualitäten wieder in einigen ihrer Wechselbeziehungen zusammen genommen werden. Aber sie erreichen aufgrund der oben erwähnten Reduzierung der Widersprüchlichkeit nicht die "Lebendigkeit", die philosophisches Begreifen im Sinne der Darstellung in I) und entsprechend Schellings Forderung erfassen soll. Aus dieser Differenz, aus dem Verlust an Lebendigkeit und Qualitätsvielfalt, nähren sich vielfältige Wissenschaftskritiken (Goethe, Bloch, ÖkologInnen, Feministinnen etc.). Diese kritisieren jedoch oft nur die Ergebnisform (und natürlich - sehr berechtigt - den Missbrauch und die profitorientierte Zurichtung der Wissenschaft) ohne zu berücksichtigen, welche spezifische Aufgabe Naturwissenschaft im Unterschied zu beispielsweise Philosophie oder Kunst in der menschlichen Praxis hat und unter welchen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen (wie der Reduktion der Widersprüchlichkeit auf die Dualität, die sich dann in komplementären Größen, bzw. in der Unterscheidung von jeweiliger Dynamik und messtheoretischen Voraussetzungen zeigt) dies nur geschehen kann.

Die Rolle der erkenntnismäßigen Voraussetzungen für das Treiben von Naturwissenschaft wurde erstmalig von Kant in seinen berühmten "A priori" (erkenntnisermöglichende, "vor aller Erfahrung" vorausgesetzte Prinzipien) erkannt. Er wusste aber noch nicht, dass diese "A priori" nicht ein für alle mal für alle Menschen gleichermaßen gegeben sind, sondern selbst im historischen Prozess der Wissenschaftsentwicklung einer Entwicklung unterliegen. Grad große wissenschaftliche Revolutionen sind immer davon gekennzeichnet, dass neue Erkenntnismittel die früheren ablösen und sie dadurch auch ihre Tatsachen auf eine andere Weise konstituieren - obwohl sie über dieselbe Welt sprechen.

Diese kurze Zusammenfassung einer meiner Meinung nach adäquaten Wissenschaftsphilosophie beruht weitgehend auf den Arbeiten der Philosophin Renate Wahsner.

Siehe dazu:

 





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