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Schellings Erkenntnistheorie

Dieser Text in seiner ersten Version zeigte nicht viel von dem, was einige Leser an meinen Internettexten so gefiel - von mir und meiner persönlichen Sicht.

Das wird sich auch nicht groß ändern. Jedoch steckt z.B. in der Betonung der Dialektik meine persönliche Auswahl und auch im Aufzeigen mancher Zusammenhänge. Zum Beispiel möchte ich unbedingt darauf verweisen, daß manche scheinbar völlig neuen Erkenntnis wie die Selbstreferentialität in der klassischen deutschen Philosophie als grundlegender Bestandteil enthalten sind.

Wichtig ist mir auch die Ableitung der theoretischen Fragestellung aus lebenspraktischen Problemen, vor allem der Frage nach einer möglichen Begründung der Freiheit.

Die Erkenntnisfähigkeit der Menschen war eine Errungenschaft, die "Wissen als Macht" über die eigenen Lebensumstände bedeutsam machte. Das Wirken der Naturverhältnisse nicht mehr nur hinnehmen und irgendwie überleben zu können, sondern sie zu entschlüsseln, um ihre Gesetze selbst im eigenen Interesse zu verwenden, war ein bedeutsamer Weg in der Menschheitsgeschichte.

Auf diesem Wege wurde immer mehr erkannt und erklärt. Alles schien sich aus etwas anderem ableiten zu lassen. Alles erwies sich als bedingt und bestimmt durch Anderes.... Es scheint so, als gebe es keine Offenheiten mehr. Alles ist notwendig bestimmt.

Es kommt der Punkt, wo gefragt werden muß, ob auch der Mensch nur an der Marionettenstrippe des All-Notwendigen hängt, oder ob ihm ein Freiraum für eigene Entscheidungen bleibt, ob Freiheit im Notwendigen überhaupt möglich ist.

IMMANUEL KANT zeigt ein Schlupfloch: Die Erkenntnis gelangt nicht überall hin. Das "Ding an sich" kann sie nicht erkennen. Es gibt noch innere Zwecke lebender Organismen, für die der "Mechanismus" der Natur zur Erklärung nicht ausreicht.

Auf dieser Grundlage kann JOHANN GOTTLIEB Fichte befreit ausrufen: "Alles Fremde sei aufgegeben. Ich will selbst untersuchen." Er setzt fest (er kommt darauf nicht etwa durch logisches Nachdenken oder schlüssige Beweisverfahren), daß alle Wissenschaftslehre dem Prinzip der Freiheit untergeordnet sein muß. Mit diesem veränderten Blickwinkel nimmt er sofort wahr, daß die Menschen - im Gegensatz zu Pflanzen etwa - immer unter verschiedenen Handlungsmöglichkeiten auswählen können. Diese Wahl ist nicht durch etwas dem Menschen von außen Vorgegebenes (weder Gott noch die Naturgesetze) vorherbestimmt.

Warum nicht? Fichte entwickelt den Gedanken von Kant weiter, daß das Außen nicht ungebrochen auf das Innere des Menschen einwirkt. Die Wahrnehmung ist nicht nur ein passiver Abdruck des Äußeren, sondern es wird eigentlich wieder nur der eigene Zustand wahrgenommen. Das Wahrnehmen dieses eigenen Zustandes wiederum braucht aber das Nicht-Eigene. Das Ich setzt das Nicht-Ich usw.

Dabei ist für Fichte immer eine Einheit von Subjekt und Objekt gegeben, wobei das Subjekt primär ist. Er meint damit nicht den einzelnen empirischen Menschen, sondern die "Ichheit".

Daraus ergibt sich auch: Eine Synthese ist nicht das Verknüpfen vorher schon vorhandener Dinge, sondern ein Anknüpfen und Hinzutun eines ganz neuen, erst durch das Anknüpfen entstehenden Gliedes an ein anderes, unabhängig von dem selben vorhandenes. Es ist ein Tun, eine Tätigkeit. Der Begriff ist nicht das Nachbild eines Gegebenen, sondern ein Vorbild, das (im Tun) Hervorzubringende.

Darauf stützt sich nun FRIEDRICH WILHELM Schelling.

Auch für ihn ist "Der Anfang und das Ende aller Philosophie - Freiheit!".Im Unterschied zu Fichte sieht er nicht nur im Menschen subjektive Elemente, sondern er spricht der gesamten Natur Subjektivität in Form einer unendlichen Produktivität zu.

Die Betonung der Subjektivität, womit er das Lebendige, Dynamische, Produktive und Schöpferische in den Mittelpunkt stellt, steht im Gegensatz zu einer Wissenschaft, die auf einem Beobachterstandpunkt beharrend die Natur nur sezierend analysieren will und dabei die Lebendigkeit der Natur abtötet. Deshalb kritisiert Schelling diese Art der Naturforschung.

Auf diese Kritiken wird heute gern und berechtigt zurückgegriffen, wenn angesichts ökologischer Probleme und moderner Erkenntnisse über die Komplexität der Welt (Selbstorganisations- und Chaoskonzepte) neue Wege gesucht werden.

Primär ist bei Schelling die Entität, die nur durch ihre eigene Identität bedingt ist. Dies ist das ICH (1794). In seinem System des transzendentalen Idealismus (1800) verbindet er zwei Aspekte. Er geht abwechselnd einmal vom Standpunkt des primären Subjekts (ICH: Transzendentalphilosophie) und einmal vom Standpunkt des primären (subjektiven, weil produktiven) Objekts (Natur: Naturphilosophie) aus. In der Erklärung der Übereinstimmung von Subjekt und Objekt sah er die Aufgabe der Philosophie.

Als zu lösende Problem formuliert er das oben erwähnte problematische Verhältnis von Wahrheit der Erkenntnis (Notwendigkeit) und der Realität des Wollens (Freiheit).

Seine Lösung geht davon aus, daß Subjekt und Objekt im Wissen vereinigt sind. Die Philosophie kann nun nachweisen, daß beim Ausgehen vom Subjektiven das Objektive abgeleitet werden kann (Transzendentalphilosophie) und auch beim Ausgehen vom Objektiven Subjektives abgeleitet wird (Naturphilosophie).

Das System der Transzendentalphilosophie beschreitet den erstgenannten Weg.

Schelling geht hier dialektisch vor:

Das Ich ist eine Handlung (=Selbstbewußtsein), in welcher zwei entgegengesetzte Tätigkeiten sind (eine, die begrenzt wird und eine, die begrenzend ist). Der Widerspruch der beiden Tätigkeiten vernichtet sie aber nicht gegenseitig, sondern ein Drittes (die Identität) resultiert daraus und vermittelt gleichzeitig. Diese Identität ist wiederum nicht etwas Festes, sondern eine Handlung, die eine unendliche Reihe von Handlungen vereinigt.

Im Einzelnen unterscheidet Schelling verschiedene Epochen:

Der erste Akt des (für uns) unbewußten Selbstbewußtseins erzeugt das Empfinden. Wird diese Empfinden angeschaut, entsteht die produktive Anschauung. Diese ist das Ergebnis der ersten Epoche. In der zweiten Epoche entsteht (aus einem nichtlinearen Prozeß, wie wir heute sagen würden) der innere Sinn (das ich empfindet sich mit Bewußtsein), das Selbstgefühl (das entstehende Bewußtsein setzt sich dem Objekt entgegen) und die Individualität (das Heraustreten der Intelligenz aus der Synthesis, um sie mit Bewußtsein wieder neu zu erzeugen, indem sie das Universum gerade von diesem bestimmten Punkt anschaut).

In der dritten Epoche schließlich die Reflexion, die Abstraktion (der Begriff entsteht beim Absondern des Handelns vom Entstandenen), das Urteil (Begriffe und Objekte werden getrennt, d.h. Begriffe werden mit Anschauungen verglichen) und schließlich der Schematismus als Regeln zum Hervorbringen des empirischen Gegenstands (Vermittlung von Anschauung und Begriff).

Damit ist das Objektive aus dem Subjektiven abgeleitet.

Wichtig ist folgendes:

Das Bewußtsein erkennt jetzt zwar die Trennung zwischen sich und der Welt, ist aber frei dabei. Dies ist nur möglich, weil die Reflexion zugleich auf sich und das Objekt reflektiert! (das ist wesentlich für die Reflexion der Reflexion auch bei Hegel und für die Frage, warum ich in meinen Texten auch oft darüber berichte, warum ich über etwas wie nachdenke...)

Daß die "Selbstreferenz", die heutzutage als supermoderne Erkenntnis aus der Biologie beschworen wird, also schon mindestens 200 Jahre alt ist, wird hier auch deutlich: Der transzendentale Idealismus "behauptet nur, das Ich empfinde niemals das Ding selbst..., oder auch etwas von dem Ding in das Ich Übergehende, sondern unmittelbar nur sich selbst, seine eigne aufgehobene Tätigkeit."

Nach der Entstehung des empirischen Gegenstandes folgt die praktische Philosophie, in dem das Ich selbst dem Ich zum Objekt wird (das Wollen wird abgeleitet).

Dadurch erst wird durch das Wollen und das Sollen (in der zeitlichen Sukzession) der theoretische Widerspruch (der Anschauung) von Selbstbestimmung und Bestimmtsein aufgelöst.

Trotz Selbstreferenz (nicht das äußere Ding wird empfunden, sondern nur die eigene, aufgehobene Tätigkeit) gibt es eine Beziehung zwischen dem Ich und anderen Intelligenzen (in anderen Menschen und der Natur). Die Anderen wirken als meine Beschränktheit (als negative Bedingung, aber nicht Ursache) indirekt auf mich ein. Wir haben eine gemeinschaftliche Welt, die wiederum durch eine uns gemeinsame - übergeordnete - Beschränktheit hergestellt wird. Wir sind nicht durch die Anderen bestimmt, sondern durch unsere Individualität, unser Wesen. Dieses determiniert auch die von uns nach außen gerichtete freie Tätigkeit:

Die Dialektik des Erkennens ist bei Schelling deutlich herausgearbeitet:

Das Ich ist erst eine ursprüngliche, unbewußte (also noch unfreie!) Einheit von Subjekt und Objekt. Die Intelligenz trennt diese Einheit in ihrem höchstem Reflexionsakt, nämlich der gleichzeitigen Reflexion auf sich und auf das Objekt, auf. Danach erarbeitet sie sich neu als bewußte und freie Einheit.

"Wahre Philosophie geht von jener ursprünglichen Trennung aus, um durch Freiheit wieder zu vereinigen, was im menschlichen Geist ursprünglich und notwendig vereint war, d.h. um jene Trennung für immer aufzuheben."

Das Ich ist nun frei bezüglich der Richtung seiner Gegenstandskonstruktion. Es prägt als Individualität die Einzigartigkeit seiner Weltsicht:

"Soll eine Intelligenz sein, so muß sie aus jener Synthesis heraustreten können, um sie mit Bewußtsein wieder neu zu erzeugen; indem sie das Universum gerade von diesem bestimmten Punkt aus anschaut."

Nach 1800 verwendet Schelling für das Identische, oder auch Absolute, den Begriff Gott und auch Substanz. 1804 will er gar keine Unterscheidung von Objekt und Subjekt mehr zulassen: gerade die Unterscheidung sei der Grundirrtum gewesen.

Die Vernunft (Gottes) erkenne sich immer nur selbst: es ist ein und dasselbe, das da weiß und das da gewußt wird.

Alles ICH wird in Gott hineingenommen: "das Denken ist nicht mein Denken ... denn alles ist nur Gottes oder des Alls". Erkenntnis geht gerade aus der Vernichtung aller (empirischen) Subjektivität hervor. Sie ist die Selbstbejahung des wahren Seins (Gott).

Ab 1804 ist Schellings Grundprinzip Freiheit stark zurückgebunden an das Absolute. Indem im absoluten Erkennen alles Mögliche auch wirklich ist, lehrt dieses absolute Erkennen eine wahre Duldsamkeit. Alle Dinge sind als in der Totalität begriffen zu denken, also "wozu ... alle Sorgen und das unruhige Streben?".

Schelling traut auch nicht den Denkformen zu, zu dieser absoluten Erkenntnissen zu kommen. Während das Denken den Gegenstand immer nur als stillstehend erkennen könne, erblickt die Anschauung das absolut Bewegliche. Nur die Einbildungskraft kann zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen vermitteln.

Trotzdem ist Schelling kein Pantheist. Er muß sich nachdrücklich gegen diesen Vorwurf verwahren. 1809 versucht er in seiner Freiheitsschrift den Unterschied von Gott und Welt zu begründen. Er unterscheidet Reales und Ideales als Schichten Gottes. Dabei ist die Welt wesenhaft von Gott verschieden - sie kommt nur aus seinem Grund (Grund: nicht Ursache, sondern das Reale, das Materielle im Sinne von "Fundament, Unterlage, Grundlage, Basis"). Dieser Grund Gottes ist seine "Dunkelschicht". Die Welt bei Schelling ist (ab 1806) ein Wechselspiel zwischen Realem und Idealem. Das reale Prinzip ist kontrahierend, gegen das Zerfließen im Ganzen gerichtet und birgt die Gefahr des Egoismus, der Zerstörung in sich. Dem entgegengerichtet ist das ideale Prinzip als Expansion in Gemeinschaft. Ordnung und Dynamik sind bei Schelling hier verbunden, aus ihrer Dynamik entsteht die Welt und ist gleichzeitig gefährdet.

Nun kann Schelling auch erklären, woher das Böse kommt (Sündenfall: Erhebung der Mächte des Grundes über die Mächte des Geistes durch die ersten Menschen) und die Möglichkeit der Freiheit (Gott kann sich aufgrund seines Wesens "nur offenbar werden in freien, aus sich selbst handelnden Wesen").

Dabei identifiziert er nie platt die reale oder die ideale Seite mit einem davon....

Dieser Grund ist auch die Basis für den oft an Schelling kritisierten "Mystizismus". Diese unergreifliche (!) Basis der Realität, der nie aufgehende (!) Rest ist nicht rein rational-logisch zu erfassen. Die Tätigkeit dieses Grundes ist nie abgeschlossen.

Trotzdem gibt Schelling das Denken nicht auf: "Aber nur der Verstand ist es, der das diesem Grund verborgene... heraushebt."

Gemeint ist hier Gottes Verstand, das Ideale an sich. "Indem aber Gott über den wogenden, aufbrechenden Grund seine Geist (Verstand = das Ideale an sich) kommen läßt,, der wie ein Magnet das Geistige im Grund (das "Ideale" im Realen) anzieht, hochzieht aus Bedrängnis ans Licht, lichtet sich der Grund Gottes." (Anmerkung von H.Fuhrmann in der Freiheitsschrift). Dies ist dann die Weltgeschichte. Sie ist wieder (nachdem von 1800 bis 1806 ein statisches Weltbild bei Schelling typisch war) dynamisch, ein Kampf der Mächte (wobei es bei ihm trotzdem kein "Werden in der Zeit" gibt, sondern nur ein sachliches Abheben der Momente des göttlichen Seins!).

GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL baut in seiner ersten Schrift über die Differenz der Fichteschen und Schellingschen Philosophie (1801) auf Schellings Erkenntnisdialektik auf. Er übernimmt aber niemals die bei Schelling später deutlich überbetonte Rolle der Anschauung gegenüber dem Denken. Dies wird auch die Ursache ihrer gegenseitigen Entfremdung.

Hegel sieht die Einheit in einer absoluten Identität, die durch die Reflexion (Verstand) aufgetrennt wird in eine Identität (A=A im Bezug auf das Absolute) und die Entzweiung (jedes Bestimmte ist durch Anderes - mindestens seine Negation - bestimmt). Diese gegenseitige Negation von Identität und Entzweiung in jedem Verhältnis wird erst wieder zusammengeführt durch einen erneuten gemeinsamen Bezug zum Absoluten, indem jetzt die Vernunft die erste Reflexion (Negation) erneut reflektiert (negiert). Erst in dieser Reflexion der Reflexion oder Negation der Negation ist eine erneute Einheit hergestellt, aber nicht als platte Identität, sondern als Identität von Identität und Unterschied.

Literatur auf Anfrage bei mir (ansonsten im Schellingtext entsprechend den Jahreszahlen)

 

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